Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
XI. Buch. ODie Literatur. 5 
  
eine kernig-fränkische Kraftnatur in Michael Georg Conrad erstand, der „DOie Gesell- 
schaft“ als Sammelplatz der jungen Stürmer und Oränger gründete. 
Von sozialem und naturwissenschaftlichem Geiste war 
die Bewegung getragen, die bis in die Gegenwart 
hinein nachwirkt. „National und modern!“ war der Wahlspruch der Harts, voll 
frischer Lebensbejahung; die germanische Seele schien ihnen berufen, von dem ver- 
blassenden, kaltakademischen Zdeal des klassischen Altertums sich frei zu machen und 
aus eigener Fülle des Reichtums warmes, wirkliches Leben zu spenden; eine innere 
Größe solle mit der politischen sich verbinden und das Theater zu einer Stätte schaffen, 
die Freiheit und Tiefe widerspiegele und die sittliche Kraft des jungen Geschlechts 
befruchte und pflege. Der Mittelmäßigkeit ward der Krieg bis aufs Messer erklärt. 
Nur schade, daß man die Genies nicht aus der Erde stampfen konnte, denn im geistigen 
Schaffen bedeuten Gewalt und Tendenz und Theorie nur wenig und vermögen das 
Wachsen und Bilden von Persönlichkeiten nicht in ein schnelleres Zeitmaß umzusetzen. 
Auch sie selbst, die Harts, blieben als Kritiker hervorragender denn als Künstler, so hohe 
Ziele sie sich als solche auch steckten und in tapferem Lüngen zu erreichen suchten. So 
heilsam es war, wider die altertümelnde Dichtung eines Ebers, wider all das Konven- 
tionelle und Spielerische und Seichte auf der Bühne (Blumenthal), wider falsches Pathos 
und ungesunde Lüsternheit zu streiten, so bleibt doch Verneinen leichter als Besser- 
machen. Man entdeckte eine neue Stoffwelt, das Großstadtelend, doch damit war die 
neue Kunst, die jene bewältigte, noch nicht gewonnen. Die Romantik der Boheèeme 
wurde von den keckfröhlichen Studentenseelen ausgekostet und sensationell verarbeitet; 
esz fehlte auch nicht an Energie und Leidenschaft des Gedankens und des Strebens, 
Zustände und Einrichtungen in Staat und Wissenschaft und Kunst umzuformen, doch 
jenes für den Künstler notwendigste Bestreben, ohne äußeren Zweck an sich selber zu 
bauen und das persönliche Verhältnis zu Zeit und Ewigkeit zu klären, war nur bei we- 
nigen wach und rege. Die das einzelne bindenden Ideen kamen bei dem Tatsachen- 
kultus zu kurz. So sehr man die Augen manchem öffnete, der bisher die Schattenseiten 
des Lebees nicht hatte sehen wollen, so stieß doch die brutale Absicht ab, nun einmal zur 
Abwechslung das Gemeine und Niedrige in der Menschennatur, das Häßliche und Ab- 
scheuliche im Triebleben hervorzukehren. Haß ist nimmermehr so fruchtbar wie Liebe. 
Das künstlerische Bermögen war weniger an der Arbeit als der Verstand. Die 
Theorie setzte überhaupt in dem ganzen Zeitabschnitt die Federn schaffender Dichter 
merkwürdig stark in Bewegung, und das bedeutet nicht — selbstbewußte Stärke. An- 
gewandte oder umgeformte Missenschaft erschien den einen, die besonders auf 
Zola fußten, die Kunst; die anderen wollten die beiden Reiche strenge sondern. 
So vaterlandsliebend auch die jungen Stürmer und Dränger zunächst waren, die mit 
Stolz auf ihre Vorgänger vor hundert Zahren, auf den jungen Goethe und Klinger 
und Lenz zurückgriffen, so glaubten sie doch bald, in heimischen Dichtungen nichts zu fin- 
den, was ihnen den Antrieb zur Bewunderung und Nachbildung geben könnte, denn 
leider fühlten sie sich selbst zu eigener idealbildender Kraft als zu schwach. 
„National und modern!“ 
  
97 1537
	        
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