Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
2 Baukunst. Xl. Buch. 
  
Überstand, können wir aus Ernst von Wildenbruchs Klagen sehen, also eines romantisch 
deutschen Geistes, wie nur je einer damals sein konnte. „Die Heidelberger Schloßruine“, 
schreibt er, „in ihrer gegenwärtigen Gestalt ist etwas in der Welt absolut einziges. Und 
dieses wunderbare Bild soll frevelhaft zerstört werden! Es muß bier einmal ausgesprochen 
werden, was gar nicht allgemein genug bekannt ist, daß die jetzige Schloßruine zehntausend- 
mal schöner ist, als das alte, nicht zerstörte Schloß war.“1) Am entschiedensten trat Gurlitt 
gegen die Restaurierwut auf. Zum ersten Denkmalpflegetag, 1900, den er ins Leben rief, 
schrieb er: „Mein Bestreben war dabei, den zum Denkmalsschutz berufenen Fachmännern 
die Erkenntnis zu übermitteln, daß gerade hier sich die Unmöglichkeit am deutlichsten zeigt, 
im Geiste der Alten zu schaffen; daß überall dort, wo der echte Künstler eingreife, er neu- 
zeitig sein werde, trotz allem gegenseitigen Bestreben, und daß ein wahres Kunstwerk aus 
den Unzulänglichkeiten einer verkehrten Absicht nicht entstehen könne. Altertümer kann 
man nicht machen, Nachahmungen alter Werke sind künstlerisch wertlos, sie werden zu 
widerlichen Fälschungen, sobald sie nicht als Nachahmungen erkannt werden können.“ — 
„Den Otto-Heinrichs-Bau soll man stützen, solange es geht. Man soll ihn mit allen Mitteln 
der Technik aufmessen, abbilden, abformen. Man soll jeden Stein als eine Perle in der 
Krone ansehen und ihn ängstlich behüten. Man soll aber nicht sich einbilden, man habe 
ihn erhalten, wenn man ein Nachbild an seine Stelle setzt. Ist das Alte endlich nicht mehr 
zu halten, so lasse man es zusammenbrechen. Dann ist's Zeit, die Nachahmung an seine 
Stelle zu rücken, wenn dann der Zeit noch der Sinn auf Nachahmungen steht.“.)) Oiese 
entschiedene Stimme hat im Laufe der Zeit bis in die Gegenwart hinein recht behalten. 
Den sichtbaren Beweie für die Wahrheit der Gurlittschen Worte trat vor allem Gräbner 
an mit dem Anbau an die goldene Pforte am Freiberger Dom, einem in sich wahrhaft 
empfundenen, durchaus selbständig stilistischem Werk, das in ganz natürlicher Weise an 
das Alte anbindet — als ob es nicht anders sein könnte. Mit Schäfers Tod (1908) wurde 
die Schar der Anhänger der Restaurieridee immer kleiner. Der Wiederaufbau der Meißner 
Domtürme, Schäfers letztes Werk, war von der überwiegenden Mehrzahl der bedeutenden 
Baukünstler rundweg verurteilt worden. Die Romantik Schäfers wurde nur noch von 
wenigen Getreuen gehalten und gepflegt, während die Zeit mit neuen Schöpfungen 
und neuen Fragen drüber binwegging; sie konnte in ihr nur mehr die Form für mehr 
oder minder anektodenhafte unzeitgemäße Ideen sehen. Die Bewegung, die der Streit 
um die Restaurierungefrage, allgemeiner um die Erhaltung der Denkmäler in der 
deutschen Heimat ins Leben rief, verbreitete sich durch die Presse schnell auch in weitere 
Kreise unseres Volkes, und erweckte dort Interesse für die Heimat und ihre Schätze. Und 
damit trat die Frage nach der Bolkskunst und ihren Wert auf den Plan, und es wieder- 
holte sich in Deutschland um 1900 etwa die Stimmung, die William Morris in Eng- 
land 1881 hervorrief, als er in klugen und begeisternden Worten feststellte, daß „die Volks- 
kunst die Grundlage sei, auf der sich alle Kunst erhebt“.2) Dem Volke den Sinn für die 
Kunst und die Notwendigkeit für ihre Betätigung auch im Gewerbe zu geben, war dort 
1) Aus Liselottes Heimat. 
2) Gurlitt, Gesch, der deutschen Kunft, S. 613. 
2) W. Morris, ein paar Winke über das Musterzeichnen. Leipzig, 1901. 
1560
	        
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