30 Baukunst. XI. Buch.
d. h. das Eisen erschien nun auch berechtigt, unbekleidet, als Ausdrucksmittel der Form
zu fungieren. Die Zdee dafür mochte der Anschauung van de VBeldes parallel gehen.
Wallot zwar hatte sie ja schon im Reichstagshaus verkörpert, aber doch nur in der Kuppel —
im Innern war es durchweg kaschiert. Im Zahre 1889 baute Eiffel seinen Turm auf
dem Marsfelde in Paris, ein Monument des Eisens, das nun einen neuen Nerv darstellte
in der errechneten Schönheit der statisch festgelegten Linie, aber er vergaß oder wußte
nicht, daß die Baukunft als Kunst die wirtschaftlichen und konstruktiven Bedürfnisse gleich--
sam als naturgegebene Notwendigkeiten überwältigen, dann aber auf Ziele lossteuern
will, die dem Gebiete der Phantasie und der Ordnung gehören (die dem Problem der
Form nahestehen, wie Muthesius sagt), und die Material und Konstruktion als Mittel
zum Zweck, wie als Selbstzweck kennen wollen. Denn sonst muß notwendig die Eisen-
konstruktion, soweit sie frei, also nicht Hilfskonstruktion ist und für sich auftritt, zu negativem
Ergebnis führen, da doch für alle Architektur, d. h. für alles Naumschaffen, nicht die nackte
Linie, sondern die Fläche Voraussetzung ist.!1) Zudem sind für die größeren Bauwerke
die Grundformen für das Eisen ja schon von vornherein gegeben. Schon um die 80er
Fahre wurden die Einzelteile der Eisenkonstruktion nach ihren statischen Beanspruchungen
in Normalformen gebracht, die das prinzipielle Verhältnis zwischen den Konstruktions-
elementen und dem konstruktiven Gesamtorganismus beim Eisenbau „wohl endgültig be-
stimmen“.:) Diese Grundformen, in denen das Eisen als Baustoff auftritt, sind also bereits
in besonderem Grade „Ergebnis und Ausdruck der natürlichen Eigenschaften des Bau-
materials, weil schon die letzteren selbst technisch und wissenschaftlich gerade für diese Formen
entwickelt und ausgenutzt wurden“. Die Hoffnung der Isthetik BVan de Beldes, die dieser um
die 90er Jahre aussprach, „es gibt eine Klasse von Menschen, denen wir den Künstlertitel
nicht länger werden vorenthalten können. Diese Künstler, die Schöpfer der neuen Archi-
tektur, sind die Ingenieure“ konnte sich deshalb auch nur zum Teil erfüllen — zum andern
Teil blieb die Kunst doch bei den ästhetisch empfindenden Künstlern (zu denen übrigens
Van de Velde an erster Stelle selber gehörte), die mit ihrem Formensinn, wenn auch
nicht dem statisch bezwungenen Eisen an sich, so doch dem durch das Eisen unterstützten
Begriff der Linie nähertreten. Grenander und Möhring sind an dieser Stelle vor allen
andern zu nennen, ihre Arbeiten an der Berliner Stadtbahn lassen die ersten Schritte
zur Befreiung der Form des Eisens aus dem Zwange des Historizismus erkennen.
Die Harmstädter Aus- Zumersten, auch den weitesten Kreisen des deutschen Publi-
kums deutlichen Ausdruck im Ringen nach der neuen Form
stellung von 1901.
in Baukunst und Kunstgewerbe kam es im Jahre 1901
1) Man könnte bier einwenden, daß z. B. die Hochgotik in einer dem Eisen verwandten Weise die Wand-
flächen vollkommen auflöste und nur dünne Konstruktionsglieder, sonst aber nur Glaswände als Raumbegen-
zung schuf. Man bedenke aber dabei, was das für „Glaswände“ waren! Buntfarbig wie schwere leuchtende
Teppiche odermit einem Glasvoll Blasen und Schlieren „Buckeln und Färbungen, so daß auch ohne ausgesprochene
Farbgebung die Fläche dabei immer empfunden wird — also nicht wie bei unsern Markthallen und Bahnhöfen,
wo das durchsichtige Glas allerdings schlagend beweist, daß dem Raum (man verzeihe das Oxpmoron) die
Fläche fehlt. —
2) A. G. Meyer, Eisenbauten, Eßlingen 1907.
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