Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
XI. Buch. Baukunst. 4 
  
gewaltig zugleich. Tatsächlich scheint hier dem Arbeiter eine Stätte gebaut zu sein, die 
restlos seinem ganzen Stande und seinem ganzen Arbeitsziel entspricht. Der Fabrikbau, 
der sich — wie der Bau des Kauf- und Warenhauses — erst allmählich zu eigenem Cha- 
rakter durchgerungen hatte, fand nun auch in weiteren Fachkreisen eingehende Würdigung; 
Riemersch mids Werkstättenbau in Hellerau ließ erkennen, daß nicht die großen kalten 
Glasflächen das Dußere der Fabrik auszumachen brauchen, sondern daß bei geringerer 
Lichtzufuhr, also bei klleineren Fenstern, der Arbeiter gesünder schaffe, wenn nur für gute 
Lüftung und Heizung gesorgt wurde. Damit gewann das A#ußere der Fabrik an Wand- 
fläche, an Behaglichkeit, es ließ in den Verteilungen der Fenster wie in deren Abmessungen 
Wechsel zu, die zu ganz neuen künstlerisch wertvollen Lösungen führten. 
Es ist bedeutsam, in welcher Tiefe und Breite zugleich sich 
um die Wende zum 19. Jahrhundert die Baukunst ausdehnte, 
um den Arbeiterstand in seiner wirtschaftlichen Bedeutung und seinen sozialen An- 
sprüchen mit Hilfe von Stein und Eisen zu verlautbaren. Mit ihr begann aber 
auch die Bodenreform ihre Tätigkeit, sie half mit, den Besitz zu organisieren, 
der sich im vergangenen Jahrhundert der Industrie, des Ringens ums Kapital, gleich- 
sam gesellschaftlich verschoben hatte. Sie drang darauf, daß dem Arbeiterstand nach 
Möglichkeit auch außerhalb der Werkstatt, der Fabrik, Gesundheit und Wohlfahrt 
garantiert würde, sie begann damit, nach englischem Vorbild, dem Arbeiter ein Eigen- 
heim zu bauen. Der Wert dieses Beginnens ist über die soziale Absicht hinaus groß: 
denn dem Arbeiter wird mit einem geschmackvollen Heim zugleich das Gefühl ge- 
geben für den Wert des Gewerbes; und da der Arbeiter viel mehr als früher mitratet und 
mittatet im Kulturschaffen der Gegenwart, darf ihm notwendig auch in künstlerischer 
Beziehung die Kultur nicht verschlossen bleiben. Das betrifft nicht nur die Kultur des 
Wohnens, sondern ebenso die Kultur des öffentlichen Lebens. Und auch hier sehen wir 
die Wirkung des sozialen Gedankens architektonisch ausgedrückt. Die Rückkehr zur Schlicht- 
heit und Sachlichkeit, ihre Anerkennung als beherrschender Faktor des Baues, die vor- 
sichtige, sparsame, aber dann um so dankbarere Verteilung des Schmuckes an den Außen- 
flächen, die Freude an kräftiger Farbe im Innern — dies alles gibt Beziehungen zum 
Volke, zieht das Volk mit in den Interessenkreis auch der großen Baukunst. Dülfer, 
dessen schon eingangs als eines Outsiders in den Tagen des zu eigenem Ausdruck erwachen- 
den Münchens gedacht war, hat zunächst dem Theater eine große neuzeitliche Form 
gegeben. Sein Dortmunder Bau ist für viele Schöpfungen auf diesem Gebiete vorbildlich 
und anregend geworden. Littmanns Theaterbauprazis, allerdings hier und da noch recht 
im Zwange säulenbeherrschter Biedermeierei, hat das Theaterinnere, besonders im Sinne 
der in München geborenen Reformideen für Vereinfachung des szenischen Bildee, allen 
neuzeitlichen Ansprüchen gemäß durchgeführt, sein Künstlertheater auf der 1908er Aus- 
stellung in München gab den Anstoß zu weiterem Schaffen in dieser Richtung. 
Die Bodenreform. 
  
In der ganzen Wucht der Gegenwart, dem sozialen Be- 
Der Bahnhofsbau. -E7 [iie » 
dürfnis in größtmöglichem Umfange dienend, steht aber der 
  
1573
	        
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