4 Baukunst. XI. Buch.
Bahnhofsbau in Deutschland da. Nachdem der Frankfurter Bahnhof, 1881—1888.
durch Hermann Eggert erbaut, gezeigt hatte, wie der Großverkehr durch klare An-
ordnung sachgemäß zu bewältigen ist, indem die Bahnsteighalle, von Eisen und Glas
bedeckt, sich am Empfangegebäude totläuft, von ihm getrennt durch einen breiten
Querbahnsteig, von dem aus die Linien einfach zu übersehen sind, war der Anlage
dieser wichtigsten Verkehrsplätze die Zdee auf einmal gefunden. Allerdings mußten in
Frankfurt, wie später in Dresden bei dem durch Giese erbauten Altstädter Haupt-
bahnhof, die Außenseiten sich noch die etwas gewaltsam übergestülpte Maske architek-
tektonisch historischen Formapparates gefallen lassen — es bedurfte eben nur der Zeit,
sich auch formal in den neuen Gedanken einzuleben. Die Gegenwart scheint nun in
Lossows Leipziger Bahnhofsbau die Erfüllung zu bringen. Die weiten, hohen, eisen-
überbrückten Gleishallen — der mächtige, 180 m lange Querbahnsteig, auf den die Linien
münden, und das massive 300 m lange Empfangsgebäude, das den Verkehr in schöner
Ordnung aufnimmt und abgibt, dieser allmähliche Ubergang der Eisenkonstruktion zum
Massivsteinbau steht wohl als hervorragendster Merkstein an der Schwelle des zweiten
Jahrzehnts des 20. Zahrhunderts, als ein Beleg dafür, wie die Baukunst immer inniger
zu verstehen anfängt, die neuen Kulturfragen in sich zu verarbeiten und mit neuen Raum-
lösungen, mit neuen Baustoffen sachgemäß zu beantworten.
Der Heutsche Werkbund. Allerdings liegen noch viele Felder brach, für die
die Ackergeräte noch nicht gefunden sind. Immer-
hin — und darin liegt der große Wert unserer Tage — haben wir erkannt, daß,
nachdem die Produktion auf ein Mazximum gestiegen ist, nachdem die Quantität
uns zu drücken beginnt, wir den Weg der Qualitätsarbeit beschreiten müssen. Vor
allem in der Baukunst. Denn bier finden sich Industrie und Gewerbe, Handel und Ver-
kehr in gegenseitigen Beziehungen zueinander. Oie wertvollste Tat der Gegenwart, die
Gründung des Deutschen Werkbundes, als deren rührigster Führer Muthesius,
der den Kampf gegen die Stilarchitektur mit großem Erfolg führte, genannt werden
darf, hat gezeigt, wie weit die Baukunst ihre Wurzeln in den Boden der Kultur breitet,
wie für sie Kunstgewerbe, Industrie und Handel alle den Nährboden darstellen, aus dem
sie groß wird, wie andrerseits die Aufgaben der Baukunst auf weite ferne Ziele zeigen,
die notwendig heute schon den Führer verlangen. —
; Wenn wir auf die 25 Jahre, die seit
Die Baukunst, der Ausdruck der Kultur.
i, dem Regierungsantritt Wilhelms II.
verflossen sind, noch einmal kurz, gleichsam refümierend, zurückblicken, dann werden wir
finden, daß die deutsche Baukunst tatsächlich auf dem Wege ist, die großen Kulturereignisse,
die in einer für die zweite Hälfte des 19. Fahrhunderts geradezu topischen Hastigkeit sich
überstürzten, zu verstehen, kulturell zu ordnen und räumlich zu präzisieren. Dazu gehörte
vor allem das Sicheinleben in die Kultur, das Verstehenlernen der treibenden Gesetze und
das Unbefangenwerden diesen gegenüber. Die Befangenheit, mit der noch zu Wallots Zeiten
die Architekten den neuentstandenen Kulturäußerungen mit althergebrachtem Schema-
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