Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

Malerei und Plastik 
Von Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Haendcke, Königsberg 
Seit etwa der Mitte des 19. Zahrhunderts, umnicht einiger Einzelerscheinungen wegen 
noch weiter zurückzugreifen, wird in der deutschen Malerei der Kampf um die Farbe 
geführt. Von den Venezianern des 16. und von den Flamländern des 17. Jahrhunderts 
kamen die leuchtenden, herrlich schmückenden Farben, welche, von tiefen Schatten ge- 
stützt, die Bilder jahrzehntelang überfluteten. Zn der Schule von München-Wien 
wurde der Höhepunkt einer dekorativ-realistischen Stoffmalerei erreicht, der am letzten 
Ende eine peinlich genaue Abschilderung des äußeren Oaseins mit künstlerischem Takt 
am höchsten stand. Ahnliche Erfolge wurden gleichzeitig auf einem der Malerei ver- 
wandten Gebiete, auf dem der lebenden Sinnestäuschung, dem Theater von den „Mei- 
ningern“ in ihren stilgerechten Szenenbildern erstritten. Obwohl uns diese Nachahmung 
von Wirklichkeiten oder die gewollte Untertänigkeit unter fremde Vorbilder als ein Ab- 
lenken vom Wege zur hohen Kunst erscheint, so müssen wir trotzdem hierin ein Zeugnis 
des vordringenden Realismus erblicken, denn in der „packenden Wahrheit und Echtheit“ 
der Koloristik sah diese entwicklungsfreudige Zeit die Zaubergewalt der irrtümlich an den 
Dingen selbst wahrgenommenen Farbe versinnbildlicht. Der wohl abgewogene Rhythmus 
der reich bewegten und gut durchgezeichneten Formenweltin den Gemälden verstärkte diesen 
lebenswirklichen Eindruck. Die mächtig angeregte Vorstellungskraft, welche den Deutschen 
nicht zum mindesten zum Kunstgenuß treibt, tat das Ihrige hinzu, so daß man in einer 
Glanzzeit der Kunst zu leben glaubte. Abseits von dieser farbentrunkenen Historien- 
malerei stand die Schilderung der natürlichen Umwelt, obgleich die deutsche Malerei im 
19. Jahrhundert ihre triebkräftigsten Anreize von der Landschaft erhalten hat. Hier boten 
lichtreiche Stimmungsmalereien aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts neuen 
Anregungen die Hand, welche aus England Constable) nach Berlin und München, 
und von Frankreich (Barbizon) vornehmlich nach München gekommen waren. Dazu 
traten immer häufiger werdende Reisen in den lichtfunkelnden, farbenstarken Süden. 
#OAuch auf diesem Felde der Malerei breitete sich, etwas nivellierend, die altmeisterliche 
Farben- bzw. Tonbehandlung aus. Aber die inneren Kräfte der Landschaft, zu der die 
Deutschen so innige Beziehungen haben, brachen schnell und kraftvoll durch, als aber-- 
mals von Frankreich der Anreiz zu einer realistischen Lichtmalerei erfolgte. Diesmal 
galt es, das weiße, scharf leuchtende und vielfältig von der Atmosphäre zerlegte und 
reflektierte Sonnenlicht als Herrscherin in der Landschaft, im Freiraum mit dem Pinsel 
zu fangen. 
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