Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
52 Malerei und Plastik. XI. Buch. 
  
Palette, zu einer Tonmalerei, die nur Stimmungen, Seelenschwingungen und so gut 
wie keine irgendwie bestimmter umrissene Form kannte, durch diese kam eine tonige, 
stimmungsvolle und doch farbige Behandlung der natürlichen Umwelt zur Geltung, 
die einer realistischen Auffassung nicht entgegenstand. So war die Künstlerschaft auf 
dem Wege zu einer stimmungsvollen, farbenfreudigen Gegenwartskunst. Das Ver- 
halten des kunstsinnigen Laien bot diesen Malern eine Stütze. Es wurde immer klarer, 
daß die unstreitig vorhandene verstehende Anteilnahme des großen Publikums an den 
neuzeitlichen Schöpfungen der Landschaft- und Genremalerei, an den Stilleben und 
Porträten erlahmte, je mehr die neue Technik ausgebildet, festgefügtes Eigentum der 
Künstler geworden und nun der tote Punkt erreicht war. Das Gesetz der Ermüdung 
erzwang sich Geltung. Man war der Vereinfachungen, die nicht gar zu selten in Form- 
zerfetzungen steckengeblieben waren, der prismatisch zerlegten, farbigen Lichtwerte, die 
sich oft in keiner Entfernung im Age mischen wollten, allmählich überdrüssig geworden; 
man wünschte wieder die bestimmt ausgezeichnete Form zu sehen, und die geistigen, die 
Seelenmächte interpretiert zu erhalten. Wer die Formsprache beherrscht, kann über 
den Stoff nachdenken. Die Künstler begannen, überreich an den vor der Natur ge- 
wonnenen ALicht-, Farb- und Formwerten, einzusehen, daß deren freie geistige Ver- 
arbeitung nicht nur möglich, sondern wertvoll sei, und daß bei dem künstlerischen Schaffen 
ein feinfühliges Sehen, ein treues Gedächtnis und Erfahrung Hand in Hand zu gehen 
habe. Demzufolge bemerken wir, zunächst in der Landschaft seit ca. 1895, eine Kompo- 
sition in dem Sinne, daß die unmittelbar gewonnenen Natureindrücke durch ein starkes 
rhothmisches Gefühl für Stoff und Farbenmassen stilisiert werden, und daß die dichterische 
ANeigung, sich in das eigene Leben wieder zu vertiefen, von neuem eindringt. Man sucht 
seit etwa diesen Fahren nach dem Gleichgewicht eines formalen Aufbaues der Bilder, jedoch 
ohne Rücksichtnahme auf überlieferten Dogmatismus. Die immanente Massenpro- 
portion beginnt in der räumlichen Anschauung zu herrschen, und damit ein wesentlicher 
Faktor aller künstlerischen Arbeit sich wieder einzuschieben, die Phantasie, die gestaltende 
Vorstellungskraft. Es dominiert nicht mehr die oft ganz unbewußte Bevorzugung über- 
raschender Lichtreflexe, sondern das Streben nach einer ausgeglichenen farbigen Har- 
monie, nach der Kultur einer lichtstarken satten Farbe. Gleichzeitig gewinnt die Atelier- 
malerei wieder an Kraft. Die Maler fürchten sich auch nicht mehr vor landschaftlichen 
Motiven, welche die Phantasie des Beschauers anregen. Dies äußert sich nun allerdings 
nicht wieder in alter Weise durch topographische Ausstattung der gewählten Gegend, 
sondern dadurch, daß die Künstler in Ubereinstimmung mit den Triebkräften unserer 
Gegenwart die Orte aufsuchen, wo das schaffende Leben pulst, wie etwa die Seehäfen 
oder die Zeugnisse des Lebenswerkes unseres Kaisers, die machtvollen Kriegsschiffe in 
Sonnen- und Sturmwetter, Segel- und Ruderregatten, oder die Straße der hastenden 
Großstadt im hellen Lichte der elektrischen Lampen, die Bahnhöfe und ähnliches mehr. 
Man strebte in weiterer Folge von der Internationalität, welche der Impressionismus 
in allen seinen Spielarten der Malerei verliehen hatte, zu einem nationalen Charakter 
zurück. Diese Umwertung der Ergebnisse der Freilichtmalerei wurde naturgemäß zu- 
nächst mit einer Überbetonung bezahlt, aus der die Malerei sich erst allmählich wieder 
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