XI. Buch. Malerei und Plastik. 61
einfachten und zusammengefaßten Steinform oder zu starke Unterstreichungen der Einzel-
form, eine übermäßige Betonung der Bewegungemotive oft genug vorkommen. Oiese
Einschmiegung in die Architektur und eine gewisse Furcht vor dem Zuviel in der Natur
hat auch reichlich intensiv den Blick auf architektonisch und stilistisch ftreng gebundene
Bildhauereien verflossener Zeiten, wie etwa auf die der Agypter und Assyrer gelenkt,
weil man hier nicht die rhythmisch-architektonische Anlage der Griechen, sondern eine
symmetrisch-architektonische Linie antraf, deren manchmal etwas schroffe Eckigkeit an die
Bilder der Momentphotographie zu erinnern scheinen, und deshalb in doppeltem Maße
als richtig angesehen werden. Alle Nachteile erscheinen jedoch geringer als der eine große
Vorteil, allmählich zu einem neuen Typus in der Menschendarstellung zu gelangen.
Es sind unbestreitbar starke Ansätze vorhanden, aus dem über-
lieferten, im wesentlichen auf der Antike und der Renaissance
ruhenden Menschentppus zu einer neuen Altgestalt durchzudringen, die germanischen
Grundcharakter aufweist. Die Bildhauer werden von einem formal schöpferischen
Sollen ins Große über alle Tradition hinausgedrängt, und damit wird von den
lebenden Steinbildnern eine gar nicht überschätzbare Leistung vollbracht oder, besser
gesagt, vorbereitet. Diese Beobachtung wurde schon 1892 gemacht. Die Eigentüm-
lichkeit des deutschen Künstlers, von den individuellen Eigenschaften auszugehen, um
von dort zur Einheit zu gelangen, also in einem gewissen Gegensatz zur Antike sich
nicht von objektiven Gesichtspunkten beherrschen zu lassen, tritt klar heraus. Nicht
minder, daß der Akzent auf die durch körperliche Ubungen gleichmäßig durchge-
arbeitete Form, auf die Kraft und nicht auf die flüssige Eleganz der Linien und der
sich weich ineinanderschmiegenden Flächen gelegt wird. Dabei braucht man nicht zu
Übersehen, daß das Studium der Körperbildungen afrikanischer und orientalischer Bölker
die Gefahr des von Uberallhernehmens in sich trägt, aber die Kenntnisnahme von noch
nicht der Konvention untertänigen Menschen schließt auch Bereicherungen allgemeiner Art
in sich ein. Das Fremdartige schärft zudem das Auge für die einheimische Art. Der
lebhafte Wunsch der Künstler, immer neue Materialien zu verwenden, beweist das
schaffensfreudige Vorwärtsdrängen. Der Muschelkalk mit seiner eigenartig zerklüfteten
Oberfläche begünstigt z. B. das Streben nach neuzeitlichen Lichtwerten und das un-
bemalte Holz in seiner spröden Weichheit unterstützt, besonders im Porträt, eine ge-
fällige Herbheit. Wie immer wir über Einzelheiten und Einzelbestrebungen urteilen
wollen oder müssen, es wird jedenfalls für den, der unbefangen zu urteilen sich bemüht,
feststehen, daß die „männliche“" Kunst der Bildhauerei seit ca. 25 Jahren stetig mehr be-
tont und heute wieder in die erste Reihe der bildenden Künste einzutreten berechtigt
ist. Diese Annahme wird gekräftigt durch die Wahrnehmung, daß sich ebenso wie bei
den Malern, so auch bei den Bildhauern, die einseitig hervorgehobenen Besonderheiten
der älteren und der neuen Bestrebungen abzustumpfen beginnen. Der gegenseitige
Kespekt vor den positiven Leistungen ist gestiegen. Die mehr oder weniger altmeister-
lichen Realisten, die scharfsichtigen Naturalisten, die Reoklassizisten, die impressionistisch
auffassenden Bildhauer, die stilistisch-tektonischen Bildner beginnen gemeinsame Gesichts-
punkte zu erhalten. Allerorten herrscht jedenfalls das Erfolg verbürgende Gefühl, voran-
Nenschentypus.
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