Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

Das Kunstgewerbe 
Von Professor Franz Seeck, Berlin 
Geschichtlicher RNückblis. Die Bezeichnung „Kunftgewerbe“ ist erst im 19. Fahr- 
hundert entstanden. Sie ist ein Produkt der kunst- 
geschichtlichen Anschauung der Zeit und ist vordem unbekannt gewesen. Früher gab 
es nur ein Handwerk, dessen Meister auf ihren Einzelgebieten qualitativ das Beste leisteten 
und zugleich dem Geschmack ihrer Auftraggeber in vollem Maße gerecht zu werden 
wußten, einerlei, ob es sich um Stücke des Luxus oder des täglichen Gebrauches handelte. 
Dabei war es nicht ausgeschlossen, daß für besondere Gelegenheiten Künstler, die vom 
Handwerk etwas verstanden, Entwürfe und in späterer Zeit ganze Musterbücher lieferten. 
ODie wundervollen Arbeiten in unseren Kunstgewerbemuseen sind die bleibenden Zeug- 
nisse der Leistungsfähigkeit dieses hochentwickelten Handwerks. 
Dagegen war das, was das 19. Jahrhundert unter Kunstgewerbe verstand, etwas 
ganz anderes. In einer falschen Beurteilung dessen, was an den alten Stücken wesent- 
lich war, bezeichnete man nunmehr damit diejenigen Produktionen des Handwerks, 
bei denen besondere Kunst angewendet war, d. h. man machte einen Unterschied zwischen 
Handwerk und Kunsthandwerk, bielt es jedoch keineswegs für unbedingt erforderlich, 
daß der Künstler, der den Entwurf lieferte, zugleich von der technischen Herstellung 
viel verstand. Entwurf und Ausführung lagen vielmehr in ganz verschiedenen Händen, 
die oft so wenig Fühlung miteinander hatten, daß die Anregung, die das Handwerk 
durch den Künstler erhielt, nur eine ganz äußerliche sein konnte. Es handelte sich 
dabei auch weniger um Gegenstände des täglichen Gebrauches, als um Luxusstücke, 
die zu besonderen Gelegenheiten angefertigt wurden. 
  
Heute muß der Begriff „Kunstgewerbe“ wesent- 
lich anders gefaßt werden, und zwar läßt er 
sich nicht in eine so einfache Formel bringen. Er stellt weder das alte Handwerk 
dar mit dem oft virtuosenhaften Spiel seines Könnens, noch ist er mit dem Kunstgewerbe 
des 19. Jahrhunderts gleichbedeutend. Er ist in seiner heutigen Form ein weitgefaßtes 
Programm, das wohl die Qualität des alten Handwerks zum Vorbild nimmt, aber in 
richtiger Erkenntnis der Zeit die modernen Bedürfnisse und Möglichkeiten in ihrem vollen 
Umfang berücksichtigt. Es ist das Programm einer Ourchsetzung des täglichen Lebens 
mit demjenigen Quantum an Geschmack und Gefühl für Gediegenheit, das den 
Kulturperioden vor dem 19. Jahrhundert selbstverständliches Eigentum war, und zu- 
Begriff Kunstgewerbe heute. 
  
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