Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
XI. Buch. Das Kunstgewerbe. 65 
  
gleich einer Festlegung der Stellung, die der Künstler im modernen wirtschaftlichen 
Leben einzunehmen bestimmt ist. Sein Ziel kann daher nicht nur eine Hebung des 
Handwerks im Sinne früherer Zeiten sein. In richtiger Einschätzung der Bedeutung, 
die die wirtschaftlichen Fragen für unsere Zeit besitzen, erstrebt das moderne Kunstge- 
werbe zugleich eine Veredelung der Erzeugnisse der Industrie und sucht seinen Einfluß 
auf alle verwandten und benachbarten Gebiete auszudehnen. Diese Umbildung und 
der damit verbundene Aufschwung des Kunstgewerbes fallen in ihren Anfängen in die 
erste Zeit der Regierung Kaiser Wilhelms II. 
Die Nolle, die das Kunstgewerbe im 19. Jahr-- 
hundert gespielt hatte, war die eines Traban- 
ten der Architektur gewesen. In demselben Maße, in dem während dieser Zeit die 
schöpferische Selbständigkeit der Architektur erlahmte, war auch ein Rückgang des Kunst- 
gewerbes zu beobachten. Das Uberhandnehmen kunstgeschichtlicher Anschauungsweise 
hatte dem Neuklassizismus den Boden bereitet, und dieser hatte mit seinen Doktrinen 
die lebendige Fruchtbarkeit der früheren Zeiten allmählich abgetötet. An die Stelle 
der früheren Meisterlehre war eine Schulerziehung getreten und statt der anschaulichen 
Prazis ein mehr oder weniger theoretisches Zeichnen eingeführt worden. Hierdurch 
wurde ein Umschwung in der Heranbildung des Nachwuchses herbeigeführt, der auf die 
Dauer verhängnisvoll werden mußte. Die Architektur hörte auf, eine Kunst zu sein 
und wurde zu einer Wissenschaft, die an Hochschulen gelehrt wurde. Die gleichmäßig 
stetige Weiterbildung, die sie bei der Arbeitsweise früherer Zeiten erfahren hatte, wurde 
bierdurch unterbunden und die Fähigkeit, selbständig schöpferisch zu sein, ging ihr verloren. 
Sie beschränkte sich daher für das Weitere auf eine Wiederholung dessen, was die Blüte- 
perioden vor ihr geschaffen hatten, wobei sich allerdings der Unterschied ergab, daß diesen 
Wiederholungen nicht das Unmittelbare des Zeitgeborenen anhaftete, daß sie vielmehr 
nur äußerlich formalistische Zmitationen darstellten. So kam es, daß man Bauten und 
Gegenstände mit Rokokoornamenten schmückte in einer Zeit, deren Geist auch nicht 
die geringste Verwandtschaft mit der des Rokokos hatte und daß man sich der mittelalter- 
lichen Formensprache bediente, ohne auch nur im entferntesten etwas von der Denkweise 
des Mittelalters zu besitzen. 
Inzwischen war dem Handwerk durch die fortschreitende Industrialisierung ein 
schwerer Ezistenzkampf erwachsen. Es sah sich aus seiner Monopolstellung verdrängt 
und mußte von den Arbeitsgebieten, für die es bis dahin als alleiniger Hersteller in 
Frage kam, mehr und mehr an die alles an sich reißende Fabrikation abtreten. Es kam 
dadurch in eine abhängige Stellung und mußte, um den Konkurrenzkampf auf- 
nehmen zu können, auf ständige Verbilligung sinnen und notgedrungen an qualitativem 
Gehalt einbüßen. Infolgedessen ging ihm nicht nur das Gefühl für eine gute Technik, 
sondern mangels Ubung auch die Beherrschung einer solchen allmählich verloren, und 
da es endlich im Interesse der Wohlfeilheit statt zu guten Materialien noch zu Surro- 
gaten seine Zuflucht nahm, so wurde der Kontrast zwischen dem prunkvollen Außeren 
und der billigen Herstellung ein immer größerer. 
Niedergang des Handwerks. 
  
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