Deutsche Musik
Von Professor Dr. Karl Krebs, Berlin
Inmerbalb eines Abschnitts von 25 Jahren die Entwicklung einer Kunst aufdecken zu
wollen, wäre Vermessenheit, denn die Kunft wächst langsam, und wer dies Wachstum nur
über eine so kurze Zeitspanne weg verfolgt, der läuft Gefahr, Zufälliges und Nebensäch--
liches für Notwendiges und Wesentliches zu halten. Aber Symptome lassen sich auffassen,
Erscheinungen beschreiben, und hieraus dürfen mit Vorsicht allgemeine Schlüsse gezogen
werden auf die Richtung oder die Richtungen, nach denen hin eine Bewegung stattfindet.
Drei Künstler sind es, die der Musik zwischen 1888 und 1913 die Wege gewiesen
haben: Franz Liszt, Richard Wagner und Zohannes Brahms. Aaszt und Wagner
waren bereits tot, Brahms lebte noch, hatte aber sein Werk im wesentlichen abgeschlossen
und zeigte in dem, was er noch veröffentlichte, kaum neue Seiten. War nun einerseits
ein großer Teil der künstlerischen Arbeit in diesen 25 Jahren darauf gerichtet, das von
jenen Großen und Anderen, zum Beispiel von dem „nachgeborenen Jeanpaulianer“
(wie ihn Kretzschmar treffend nennt) Anton Bruckner Geschaffene recht zu verstehen
und zu verbreiten, sowohl durch zahlreiche Veröffentlichungen persönlicher Dokumente
und exegetischer Schriften, wie durch gesteigerte Aufführungen, so zeigten andererseits
die Schöpfungen jüngerer Komponisten deutlich, wie stark die Einwirkungen von Liszt
oder Wagner oder Brahms auf sie gewesen waren.
Den weitaus mächtigsten Einfluß auf das gesamte Musikleben hat
Richard Wagner ausgeübt. Wie seine Bühnenwerke die Operntheater
beherrschen, wie der gedankenreiche Schriftsteller, der als Kämpfer für seine Kunst und seine
Ideale das scharf geschliffene Schwert der Rede mit äußerster Wucht zu schwingen weiß,
sich ganze Heerhaufen von Parteigängern gewonnen hat, so ist seine Art des musikalischen
Ausdrucks in alle Zweige der Musik gedrungen: die Symphonie weist sie geradeso gut auf,
wie das Lied, am meisten naturgemäß die Oper. Sie hat aber auch unter der Nachfolge
Wagners am empfindlichsten gelitten. Denn es war allmählich zum Dogma geworden,
daß die Form, die Richard Wagner der Oper gegeben hatte, die jetzt einzig mögliche
Lösung des ganzen Problems und die Spitze der Entwickelung dieser Gattung sei; man
verkannte das durchaus Persönliche im Schaffen Wagners und wollte die von ihm für
sich ausgebildete Besonderheit der Operngestaltung zu etwas Absolutem erheben. Diese
Anschauung hat schwer auf die Produktion gedrückt und die freie Entfaltung der Kräfte
arg behindert.
K. Wagner.
1609