XI. Buch. Deutsche Musik. 70
zunächst dunkel, grau in grau schattiert, wer jedoch näher hinsieht, merkt bald, welche reiche
GStala hier moduliert wird. Wie bei Schillings war die Herkunft dieser Musik von Wagner un-
verkennbar, aber auch hier war es kein Nachahmen, sondern der Versuch eines Neuschöpfens
auf Grund Wagnerscher Prinzipien. Und aus den Tönen modelliert sich dem Hörer bald
die Persönlichkeit des Komponisten heraus, den er lieben muß ob seiner schwärmerischen
Innigkeit und Gefühlswahrhaftigkeit, und der als Vierundzwanzigjähriger durch seine
erstaunliche Satztechnik und Beherrschung der Orchestermittel überraschte. Den dicken
Znstrumentalsatz nahm man in Kauf, denn ein Künstler von so jungen Jahren mußte
sich ja am Ende noch abklären. Auf das nächste Bühnenwerk wartete aber die Welt
mit einiger Spannung. 1901 erschien es: „Die Rose vom Liebesgarten“. Oie Grun-
sche Dichtung scheint mir ziemlich verfehlt zu sein, eine hppersensitive Unklarheit, die
der Musik allerdings viele Angriffspunkte bot. Leider habe ich das Stück, das in München
eine ganze Anzahl von Aufführungen erlebt hat, nicht auf der Bühne sehen können,
und es nach der Lektüre zu beurteilen, scheint mir doch ziemlich gewagt. Seitdem hat
der Künstler geschwiegen, soweit es die Bühne betrifft. Vielleicht überrascht er uns noch
ein zweites Mal.
E. Humperdinck. Einen ungewöhnlichen Erfolg, einen der größten, die ein deutsches
Opernwerk der neueren Zeit überhaupt erlebt hat, fand „Hänsel
und Gretel“ (1893) von Engelbert Humperdinck. Verschiedene Umstände hatten, von
den Qualitäten des Werkes abgesehen, diesen Erfolg herbeiführen helfen. Das war einmal
die Freude am Stoff und dann die Freude am Kontrast. Zu lange hatten sich die Opern-
dichter an UÜbermenschen, Nittern, Halbgöttern und Göttern begeistert — des war das
Publikum überdrüssig, es verlangte nach Neuem. Dies erleichterte einigermaßen das
Einbrechen des sogenannten italienischen Verismo in Deutschland, denn hier kam der
Alltag zu seinem Recht: was das moderne Theaterstück liebte, das Herumwühlen im
sozialen Elend, das blutige Drama in der Tiefe des Volks, das war hier auch in der
Oper zu sehen, eingehüllt in eine Musik, die nicht, wie die Wagnersche, psychologisch,
sondern rein malerisch, rein dekorativ war, von leuchtenden Farben, grell und lodernd
wie ein Feuerbrand, und das Ganze oft von schlagender Kürze. Das berauschte, das
riß bin. Der Name Verismo für diese Kunst ist natürlich ganz verkehrt, denn nicht die
innere künstlerische Wahrheit war größer geworden, sondern die äußere Wahrscheinlich-
keit, nicht die Natur war tiefer erfaßt, sondern die Natürlichkeit besser getroffen.
Andererseits kam nun Humperdinck mit „Hänsel und Gretel“. Das war auch etwas
ganz Ungewohntes und Neues, ein holdes, deutsches Märchen, völlig naiv, ohne alles
Pathos vorgetragen, von allbekannten, schlichten Kinderliedern in köstlichster musika-
lischer Fassung durchzogen. Die Mittel der Darstellung waren dabei höchst modern,
Wagnersche Technik, Wagnersches Orchester — und doch alles der vollkommenste Gegen-
satz zu Wagners hochgespannten Dramen. Dadurch wurde das Publikum gefangen
genommen und festgehalten.
Es hätte das natürlich nicht geschehen können, wenn nicht die Oper außerdem noch
ihre Werte gehabt hätte. Was Humperdinck zu der Dichtung Adelhaid Wettes hinzu-
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