90 Deutsche Musik. XI. Buch.
und werden Musiklehrer par dépit. Daß hierdurch und durch andere Umstände dem
Lehrberuf viele ungeeignete Persönlichkeiten zufließen, ist eine Tatsache, die den ernst-
haften Musikern längst Anlaß zu besorgtem Nachdenken gegeben und zur Gründung
des musikpädagogischen Verbandes geführt hat. Der Verband hält Prüfungen für
Musiklehrer ab und erteilt Diplome, so daß das Publikum, wenn es pädagogisch aus-
gebildete Lehrkräfte sucht, wenigstens weiß, wo es sie zu finden hat. Freilich: so wenig
jemand verhindert werden kann, schlechten Musikunterricht zu geben, so wenig kann
jemand gezwungen werden, guten zu nehmen.
NAachschaffende Künstler. Das Wirken in der Offentlichkeit ist heute heikler als
je, denn die Ansprüche sind höhere geworden, nicht
vielleicht in bezug auf die Technik — hier ist man, namentlich im Gesang sogar, nur zu
leicht geneigt, Nachsicht zu üben — sondern im Vortrag. Das sinnvolle Lebendigmachen
des Kunstwerks gilt als die Hauptsache, mit Recht; ein Klavierkünstler, wie d'Albert, bei
dem die technische Ausführung bisweilen zu wünschen übrig läßt, würde nicht so hoch
geschätzt werden, wenn er es nicht verstände, die Zuhörer durch die Macht seines Ge-
fühls und seine plastische Darstellung mit sich fortzureißen. Das Höchste wird natür-
lich immer da erreicht, wo Geist, Empfindung und Technik sich das Gleichgewicht halten,
wie im Geigenspiel von Josef Joachim und in den Vorträgen des von ihm ge-
leiteten Streichquartettes. Vielleicht ist etwas ähnlich Vollkommenes, eine solche
Treue gegenüber dem Kunstwerk und dabei ein so persönliches Nachschaffen und Neu-
gestalten nie dagewesen, jedenfalls wird es für alle Zeiten Vorbild bleiben. Daß es
auch vorbildlich gewirkt hat, zeigen die zahlreichen Schüler Zoachims, sowie die vortref-
lichen Quartettvereinigungen, die seinem Beispiel nachstreben.
Auch das Orchesterspiel hat eine wesentliche Verfeinerung und Durchgeistigung er-
fahren. Hier ist Hans von Bülow der vorzüglichste Anreger gewesen. Schoß er im Aus-
deuten und Pointieren gelegentlich übers Ziel hinaus, so geschah es aus didaktischem
Ubereifer oder im Kampf gegen geistlosen Schlendrian, immer aber war heiße Liebe
zur Kunft die Triebfeder seines Handelns. Eine große Anzahl vorzüglicher Dirigenten
ist an der Arbeit, die Leistungsfähigkeit unserer Orchester weiter und weiter zu vervoll-
kommnen und Namen wie Arthur NRikisch, S. von Hausegger, Fritz Steinbach,
Maz Fiedler, die verstorbenen Felir Mottl und Hermann Levpy werden ebenso ehr-
furchtsvoll genannt werden, wenn es sich um das Lob von Orchesterleistungen handelt,
wie die von Siegfried Ochs, Georg Schumann, Felix Schmidt und manchen anderen,
wenn vom besten Chorgesang der Gegenwart gesprochen wird. Wirft man dem Konzert-
getriebe unserer Zeit vor, daß es über alles Maß hinaus angeschwollen und weit entfernt
sei, einem wirklichen Bedürfnis zu entsprechen, so muß das ohne weiteres zugegeben
werden. Zugleich ist aber zu bedenken, daß solche Zustände der Uberproduktion ge-
legentlich überall auftreten und daß immer die Zeit und die Erfahrung, das heißt in
diesem Fall der Mißerfolg, als Regulatoren gewirkt haben. So wird es auch in der
reproduzierenden Musik geschehen.
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