Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
92 Tdeater. XI. Buch. 
  
daß selbst die mit dem schärfsten Gehör Begabten den Unterhaltungen kaum zu folgen 
vermögen, ist sicherlich vom Ubel; die Hauptreform dagegen: der natürliche, dem Leben 
abgelauschte Konversationston, die ungezwungene Manier, die auch den Vers nicht in 
abgehackten Metren, sondern gleichsam in Prosa aufgelöst verständlich vorträgt, ist im 
wesentlichen nur eine Erneuerung des alten Kampfes, den Goethe — auch als Schauspiel- 
direktor Vertreter des Klassizismus mit Iffland und seinen Anhängern, den Reformatoren 
vor der Reformation — führte, und in dem er zu seiner Zeit zum Schaden der Schau- 
spielkunst als Sieger beharrte. 
Diese Umkehr in der Schauspielkunst war begleitet von einem Umschwung in der 
theatralischen Produktion. 
Zu den wesentlichen Veränderungen dieses neuen Dramas gehört die 
Vernichtung des Beiseitesprechens des Monologs sowie der pathetischen 
Reden, die man mit Unrecht als Tiraden bezeichnet. Die beiden ersten Requisite können, 
wie man gezeigt hat, entbehrlich werden, und doch wird kein literarisch Gebildeter auf die 
Monologe Tells und Hamlets, der Iphigenie und Fausts verzichten wollen; nur Radikalen 
können sie als zweckwidrig erscheinen. Wenn der Naturalismus in seinem Bestreben, 
das Leben abzuspiegeln, Pathetisches verdammt, so kann er, sobald er eben nur das ge- 
wöhnliche Leben berücksichtigt, recht hbaben. — Ob aber lebhafte Menschen damit aus- 
kommen, ohne ihren Spott, ihre Erregung oder ihre Entrüstung durch hingeworfene Be- 
merkungen zu äußern, die für keinen Oritten bestimmt sind, und ob sie nicht das Bedürfnis 
fühlen, das im Stillen Erdachte gewissermaßen in Anreden an sich zu formen, ist sehr 
bestreitbar. 
Nonologe. 
  
Vergangene Generation: Lindau, ½% den Hramankern 3 Veischlippoche 
. eneration waren in der Berichtsepoche 
Oedse, Wilbrandt, Lubliner. besonders vier tätig: Paul Lindau, Paul 
Hepse, beide noch heute lebend und wirkend, Adolf Wilbrandt, gestorben 1910, 
Hugo Lubliner, gestorben 1912. Alle vier haben auch in dem letzten Vierteljahr- 
hundert manches geschaffen; freilich nichts, was sich in anderen Geleisen, als den früher 
betretenen, bewegte, und kaum etwas, das ihren Ruhm zu erhöhen vermochte. 
ODer Letztgenannte, literarisch bekannter unter seinem angenommenen Namen Hugo 
Bürger, war lange ein Liebling des Publikums des Königlichen Schauspielhauses in 
Berlin und schon durch diesen Umstand allein bei den Modernen etwas anrüchig. Aber 
seine Dramen, unter anderen „Frauenadvokat“, „Die Frau ohne Geist“, „Die 
Modelle des Sheridan“, „Auf der Brautfahrt“, „Gold und Eisen“, „Der 
Jour fis“, gehen über den Tageserfolg hinaus. Sie sind amüsant, mitunter geist- 
voll und verdienen die Bezeichnung „modern“ zunächst in dem Sinne, daß sie sehr 
selten in die Vergangenheit schweifen, sondern das Gegenwartsleben, das Treiben der 
Geselligkeit, meist das der höheren Kreise darstellen. Darum sind sie gewissermaßen 
zeitgeschichtliche Dokumente, denn die von Lubliner gezeichneten Typen haben wirklich 
existiert. In dieser Gesellschaftsschilderung liegt seine Bedeutung mehr als in der 
  
  
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