Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
94 Theater. XI. Buch. 
  
den machte und ihm eine Tochter andichtete, so mußte man ihn abweisen, weil er ein 
scheinbar gründliches und doch ungründliches, ein farbenreiches und doch mit schlechten 
Farben gemaltes Bild aus einer herrlichen Zeit entworfen hatte. 
„Oie Rabensteinerin“, Wildenbruchs letztes Stück (1907), bedeutet keinen Fort- 
schritt und keine Wandlung. Echtes dramatisches Leben, mit viel Sentimentalität: Liebe 
auf den ersten Blick, Zdeen des 20. Jahrhunderts (Teilung des Arbeitsertrags) in das 
16. Jahrhundert übertragen, in einer Sprache, die archaistisch sein soll und geradezu greu- 
lich ift. Bersabe, die Tochter des Nitters von Rabenstein, rettet dem jungen Welser von 
Augsburg das Leben, tötet seine Braut Ursula Melber, von der sie meint, daß sie, von dem 
jungen Welser aufgefordert, ihren Untergang, die Zerstörung der väterlichen Burg mit 
ansehn soll, und wird, auf den Einspruch Welsers, vom Henkertod gerettet und zieht mit 
ihm als seine Gemahlin nach BVenezuela. 
Eine „Revolution der Literatur“, so verkündete Karl 
Bleibtreiu 1886, sei im Anzuge. Er verdammte die 
gesamte bestehende dramatische Literatur, hauptsächlich Paul Lindau, Oskar Blumenthal 
und ihr Gefolge, nahm aber auch Hepse nicht aus und erkannte höchstens Wildenbruch 
Gnade zu. Er verlangte, mächtig angeregt und stark beeinflußt durch die neue Bewegung, 
wie sie in Frankreich, den nordischen Ländern und in Rußland zutage getreten war, 
von dem Drama Beschäftigung mit den Zeitfragen, Realität in der Liebe und als Krönung 
die wahre Romantik, welche in den Erscheinungsformen des Lebens schlummere. Er und 
die Seinen, unter denen besonders die Brüder Hart zu nennen sind, betrachteten als 
das höchste Zdeal nicht mehr die Antike, sondern die Moderne. An die Genossen, die in 
einem Vereine zusammentraten, schlossen sich Otto Brahm und Paul Schlenther an, 
die zuerst als Journalisten und Kritiker tätig gewesen waren. Der Naturalismus wurde 
die Parole der jungen Schar; die „Freie Bühne“ in Berlin, März 1889, die Szene, 
auf der die ersten naturalistischen Dramen in Erscheinung traten (dieser Berliner Schöp- 
fung reihten sich dann ähnliche, gleichfalls in Berlin, spätere in München und Wien an). 
Freilich erlangte „Papa Hamlet“, das gemeinsame Werk zweier Genossen, die aus 
Freunden später Feinde wurden, Arno Holz und ohannes Schlaf, nur eine ephe- 
märe Bedeutung. 
Revolution der Literatur. 
  
Unter den übrigen zur Aufführung gebrachten Dramen waren 
neben den nordischen und französischen die von Gerhart 
Hauptmann die einschneidendsten. Sie riefen eine wahre Umwälzung hervor. Sein 
„Vor Sonnenaufgang“ (20. Oktober 1889) bedeutet den Anfang einer neuen Epoche. 
Auch heute, nachdem nun fast ein Vierteljahrhundert seit der mächtigen Erregung ver- 
rauscht ist, die das Stück in beiden Lagern hervorrief, muß man die Kraft der Charakter- 
zeichnung, das Naturalistische in der Schilderung der dekadenten Potatorenfamilie be- 
wundern und doch das allzu Widrige in der Darstellung einzelner Männer und Frauen, 
die Roheit der Sprache, das Grausige einzelner Vorgänge abschreckend finden. 
Das „Friedensfest“, gleichfalls das Bild einer verfallenen Familie vorführend, 
Gerh. Hauptmann. 
  
1626
	        
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