Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
XI. Buch. Cheater. 101 
Maz Halbe. Unter den konsequenten Naturalisten ist höchstens noch Max Halbe 
zu nennen, der mit seiner „LZugend“ (1893) einen außerordentlichen 
Erfolg davontrug: ein soziales Drama, das nicht bloß durch das bisher wenig geschilderte 
deutsch-polnische Milien, auch nicht allein durch die wirkungsvolle Vorführung eines 
katholischen Geistlichen, sondern durch die vortreffliche, wenn auch mitunter zu stark 
naturalistische Ausmalung des Erwachens der Liebe bei Knaben und Mädchen die 
allgemeine Anerkennung verdient, die ihm zuteil ward. 
Aber es blieb bei ihm, wie bei so manchen Poeten früherer Zeit, bei diesem einen 
Erfolge; keines seiner späteren Werke konnte an Bedeutung und Wirkung dem Erstling 
nur von ferne gleichkommen. Eines seiner letzten Dramen, „Der Strom“, ist ein ver- 
wickeltes Familienstück, das an veraltete Vorbilder erinnert: ein älterer Bruder, der die 
jüngeren um ihre Erbschaft betrügt, darüber seine Gattin verliert und im Kampfe mit 
seinem jüngsten Bruder zugrunde geht. Uberaus künstlich, nicht künstlerisch, d. h. rein 
äußerlich, ist ein Daimmbruch mit diesem Familiendrama in Verbindung gesetzt. 
Im Arnschluß an Halbe, obwohl vielleicht durch diese Aneinanderreihung seine Be- 
deutung über Gebühr erhöht wird, kann man von drei Richtungen sprechen, die in den 
modernen Produktionen bemerkbar sind: die eine die Sinnlichkeit, die andere die Heimats- 
kunft, die dritte, die ich zunächst mit kurzem Worte als Erdgeruch bezeichnen möchte. 
  
Sinnlichkeit. Die Sinnlichkeit war immer Gegenstand von Theaterstücken. 
Während aber früher namentlich in dem von Frankreich Impor- 
tierten der Sieg der Lüsternheit mit allerlei perversen Mittelchen gezeigt wurde, handelt 
es sich nun darum, das Aufkeimen der Sinnlichkeit als ein natürliches Phänomen, wenn 
auch nicht zu glorifizieren, so doch als etwas Unabwendbares darzustellen (Wedekinds 
„Frühlings Erwachen“ pvgl. unten). Vor allem gilt es aber, einen Kampf zu 
führen gegen die konventionelle Sittlichkeit, gegen die sich mit dem Tugendmantel dra- 
pierende Ehrbarkeit und die großen Löcher jenes Tugendmantels zu zeigen. 
Das ist eine neue Art, die sich im Lustspiel geltend macht. Sie wird durch eine Theorie 
begründet, die naturgemäß als die einzig richtige gilt, während die früheren als grund- 
falsch Hingestellt und ihre Bekenner als Zdioten gescholten werden. Früher galt als 
Gesetz, daß die Komödie lachend Unsitten zu strafen hatte. Dagegen erhebt sich ein Wort- 
führer der neuen Richtung, Loseph Ruederer, indem er sagt: „Wird ja doch stets 
in der Komödie in Lüge und Intrigue, in Uberlistung und Betrug, in Unkeuschheit und 
ehelicher Untreue das Möglichste geleistet zugunsten der Erzielung komischer Situationen; 
von einer Bestrafung der Unsittlichkeiten ist dabei so wenig die Rede, daß eine solche viel- 
mehr die Komik aufheben würde. Die einzige Strafe, das Lächerlichwerden, trifft Gute 
und Böse so gleichzeitig, wie in der Tragödie der Untergang. Die treulosen, falschen, 
rücksichtslosen und unzarten Helden der Komödie empfangen vielmehr den Lohn, zuletzt 
in der Hauptsache ihren Willen zu kriegen.“ Bei diesem Plädoper verfährt Nuederer 
zwar wie ein guter Advokat, aber wie ein schlechter Historiker. Denn wenn er Plautus 
und Aristophanes als seine Gewährsmänner anführt, so vergißt er Molière und Shake- 
speare, auch Kleist und Goethe. Vor allen Dingen beurteilt er auch seine Komödie 
  
103 1633
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.