Das öffentliche Leben
Von Prof. Dr. Theobald Ziegler, Frankfurt a. M.
Hegel sagt in der „Rechtsphilosophie“ von 1821: „Der Staat ist die Wirklichkeit
der sittlichen Zdee: am der Sitte hat er seine unmittelbare und an dem Selbstbewußt-
sein der einzelnen seine vermittelte Exristenz“, und an anderer Stelle: „Der Staat, als
Geist eines Volkes, ist zugleich das alle seine Verhältnisse durchdringende Gesetz der
Sitte und das Bewußtsein seiner Individuen.“ Dieser Gedanke mag uns für das Kapitel
vom öffentlichen Leben im deutschen Staate der Gegenwart das Leitwort geben. Ein
solches brauchen wir, wenn wir uns auf dieses weite und uferlose Meer mit seinen Zm-
ponderabilien und den in nebelhafter Ferne verschwimmenden und verschwindenden
Unfaßbarkeiten hinauswagen wollen. Denn was heißt öffentliches Leben? und was
gehört dazu?
Im griechischen Stadtstaat von kleinstem Umfang war, wenigstens bis tief in das
fünfte vorchristliche JLahrhundert herein, der „Nomos“ alles — staatliches Gesetz
und Volksgeist, Sitte des Volkes und Sitte der einzelnen, menschliche Satzung und
göttlicher Wille, Naturrecht und positives Recht, etwas bewußt Gültiges und etwas un-
bewußt Tragendes und Führendes, er war weltlich und religiös zugleich, eine große
Einheit und als solche eine große Macht, und wie der Staat im ganzen so auch jeder ein-
zelne von ihm erfüllt und gehalten, durch ihn und an ihn gebunden und in ihm als einem
von allen selbstgewollten völlig frei; weil das ganze Volksleben unter diesem Nomos
stand, in ihm verlief und nach ihm sich abspielte, war das Leben des einzelnen und alles
Leben im Volk öffentliches Leben.
Keine Einheit der Sitten mehr. Eine solche undifferenzierte Einheit
des Volkslebens haben wir längst nicht
mehr, wenn wir sie je gehabt haben. Nicht nur hat jeder einzelne vieles als ein Eigenes
und Besonderes sich vorbehalten, das nicht zum öffentlichen Leben zu rechnen ist, vielmehr
ihm als einzelnem oder auch ihm in seinen Beziehungen zu anderen einzelnen privatim
angehört: sondern, was für uns die Sache noch weit schwieriger macht, auch einen allge-
mein anerkannten Nomos, wie ihn die Griechen hatten, gibt es bei uns nicht; staatliches
Gesetz und Sitte sind auseinandergetreten und zweierlei geworden, und die „Sitte“" —
wo sollten wir sie suchen? wo können wir sie finden? Die Einheit der Sitten im engeren
Sinn, in die das griechische Volkstum so sicher eingebettet und in der es so fest verankert
und verwurzelt war, ist uns verloren gegangen. Wir haben wohl noch Sitten, aber
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