Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
4 Das öffentliche Leben. XII. Buch. 
  
keine Sitte mehr, wie wir eine von heute zu morgen wechselnde Mode, aber keine stabile 
und dauernde Tracht mehr haben. Scheinbar ist das ein großer Verlust, daß uns dieser 
tragende Hintergrund und dieser feste Halt, den Volk und Staat an der Sitte haben, 
abhanden gekommen ist, und ist doch in Wahrheit ein Fortschritt, wie alles Differenzieren 
ein Fortschreiten und ein Verfeinern ist. Aus dem mütterlichen Schoß des Nomos, 
wie einst aus dem der Kirche und der Religion, haben sich bei uns die einzelnen Lebens- 
gebiete vom Ganzen abgclöst, und gehen nun, sich gegeneinander immer bestimmter 
abgrenzend, mehr oder weniger selbständig ihren eigenen Weg und führen ihr eigenes 
Sonderleben. Man nehme die Kunst eines Pheidias und halte sie zusammen mit un- 
serer heutigen Kunst und ihren BVertretern, und man sieht, wie diese so gar nicht mehr 
zum öffentlichen Leben zu gehören scheint und wie sie darum auch alle Einheitlichkeit 
verloren hat, in den Wirbel der Meinungs- und Geschmacksverschiedenheiten hineinge- 
rissen ist und ihre Vertreter aus lauter Suchenden bestehen; und wie vielleicht gerade 
deswegen die Künstler unserer Art am meisten entsprechen, die am energischsten suchen 
und die Unruhe des Suchens am lebhaftesten in ihren Werken zum Ausdruck bringen. 
Es hängt das schon äußerlich zusammen mit dem ganzen modernen Leben, das unter 
dem Zeichen des Verkehrs stehend das Volk nicht mehr in der alten Weise seßhaft werden, 
in seiner Heimat nicht zur Ruhe kommen läßt: vom Land strömt es berein in die Groß- 
städte, die zu Riesenstädteen anschwellen, und in ihnen tritt dann an die Stelle einer festen 
und einheitlichen Sitte die Großstadtluft mit ihrem Schwanken und Wanken, mit ihrem 
gegenseitigen Fremdsein und Fremdtun und ihrem kaum den Tag überdauernden Zn- 
teresse für Modeberühmtheiten und dem Flackerfeuer einer rasch vorbeihuschenden 
Modebegeisterung. Auf dem Land und in den kleinen Städten ist es anders; aber wenn 
da noch eine Sitte ezistiert, so ist sie doch gerade hier deswegen nicht der Ausdruck des 
öffentlichen Lebens, weil ein solches in ihnen überhaupt wenig kräftig entwickelt und von 
den engsten Privatinteressen überwuchert und erstickt ist. In unserem großen Staat und 
Reich ist das Stilleben der Kleinstadt, selbst wenn es von einer einheitlichen Sitte ge- 
tragen wird, kein öffentliches Leben. 
Oie Sitte unfahbar. Aber noch aus einem anderen Grunde ist eine Darstellung 
der Sitte schwer möglich. Auch da, wo sie existiert und 
gerade da, ist sie ein Fluidum, das uns umgibt wie die Luft unsern Körper, von 
dem wir aber ebensowenig Bewußtsein haben, wie von dieser. Gewiß gibt es auch 
unter uns noch Sitten, durch die wir vom Morgen bis zum Abend in unserer Wohnung 
und Kleidung, in unserer Arbeits- und ganzen Lebensweise gehalten werden und die 
uns eine Menge Arbeit und eigenen Nachdenkens über das, was zu tun ist, abnehmen 
und ersparen. Allein nur, wo wir fremder Sitte gegenübergestellt werden, werden wir 
uns dieser eigenen einheimischen Landessitte gelegentlich einmal bewußt; im großen 
ganzen bemerken wir sie nicht, gerade in diesem Aichtmerken besteht ja mit ihr Wert: 
wir tun, weil und was wir nicht anders können, weil und was uns zur zweiten Natur 
geworden ist; die Gewohnheit und Gewöhnung daran hat das Bewußtsein erst ab- 
gestumpft, dann ganz weggenommen. Daher sind diese Sitten mehr nur privater Natur; 
  
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