Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
28 . Musikanin xtc.Buch. 
  
junge Kaufmann, wenn ihn am Werktag die Arbeit und am Sonntag der Sport oder 
die Marschübung und das Manöverieren im Gelände vollauf in Anspruch nehmen und 
müde machen, noch Zeit und Kraft finden, um ein gutes Buch zu lesen oder — was doch 
auch Menschenrecht und Bildungspflicht ist — in der Stille zu sich selber zu kommen? 
Und auch das Familienleben protestiert gegen das Übermaß jugendlicher Vereinsbildung. 
Ob es wertooller ist, Weihnachten im Elternhaus oder zum Skilaufen auf dem Feldberg 
zu verbringen, wird man doch fragen dürfen. Wir wollen jedenfalls den Ruhm, das Volk 
der Denker und der Oichter zu sein, nicht um ein Linsengericht preis- und darangeben 
an das neumodische Streben und an den leidenschaftlichen Ehrgeiz, im Sport und im 
Kriegsspiel die ersten zu werden und den englischen Nekord zu brechen. Has eine tun 
und das andere nicht lassen, ist hier, so trivial es klingt, doch der Weisheit letzter Schluß. 
In diesem Zusammenhang ist auch noch an ein 
anderes jugendliches Vereinswesen zu erinnern, 
an die studentischen Korporationen, die freilich zunächst als reine Privat- 
sache angesehen werden könnten und höchstens durch die Teilnahme der Bevölke- 
rung in kleinen Universitätsstädten an der Romantik dieser bunten Mützen und Bänder 
oder durch die mehr oder weniger humorvolle Beachtung, die die Polizei ihrem lustigen 
Treiben zu schenken pflegt, mit der Offentlichkeit sich berühren. Aber wenn wir an die 
Entstehung der deutschen Burschenschaft denken und an den Einfluß, den ihr Fest auf 
der Wartburg im Zahre 1817 und der Kampf der Regierungen gegen ihren Patriotis- 
mus auf unsere innerdeutsche Politik ausgeübt hat und der in den Karlsbader Beschlüssen 
am deutlichsten und für das geistige und politische Leben unseres Volkes so verhängnis- 
voll in die Erscheinung getreten ist, oder an das Großziehen antisemitischer Tendenzen 
im Verein deutscher Studenten in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, 
so werden wir in ihnen doch auch ein Stück des öffentlichen Lebens verkörpert finden. 
Bismarck hat einmal das Fraktionswesen unserer Parlamente nicht bloß mit diesen stu- 
dentischen Verbindungen und mit ihrem Korporationsegoismus und Korporations- 
partikularismus verglichen, sondern es direkt aus der Gewöhnung daran im akademischen 
Leben abgeleitet. Bei dem Ubergewicht, das die Akademiker bald als der vornehmste 
bald als der wirklich führende Stand in unserem deutschen Beamtenstaat lange Zeit 
wenigstens gehabt und schwerlich schon ganz verloren haben, ist das ja nur natürlich. Um- 
gekehrt hat noch neuerdings ein Führer der Demokratie das studentische Verbindungs- 
leben als eine treffliche Vorschule für die Tätigkeit in den öffentlichen Körperschaften 
bis zum Reichstag hinauf und ganz direkt als gute Vorbereitung für das öffentliche Leben 
gerühmt und auch den Geist ehrlicher Toleranz gegen Andersmeinende von seiner 
Studentenzeit hergeleitet. Und wenn dieses studentische Korporationswesen heute nicht 
mehr bloß der Träger der alten romantischen Burschenherrlichkeit ist, sondern in ihm auch 
ganz moderne sittlich-soziale Aufgaben und das Bemühen um den Erwerb allgemeiner 
Bildung energisch in die Hand genommen werden, so muß der Offentlichkeit an ihm und 
an der ganzen akademischen Lebensfreiheit und ihrer Erhaltung ebenso gelegen sein, 
wie sie in der wissenschaftlichen Lehrfreiheit der Professoren und in der Lernfreiheit der 
Studentische Korporationen. 
  
1678
	        
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