XII. Buch. Das öffentliche Leben. 31
oberen Ständen, wo die Frau vom öffentlichen Leben und von der Männer Beruf und
Bildung ausgeschlossen war, die Kluft zwischen Mann und Frau sich unnatürlich und un-
gesund erweitert hatte. Umgekehrt war in den Kreisen der landwirtschaftlichen und der
Industriearbeiter der Unterschied zu klein geworden, hier arbeitet die Frau auf denselben
Gebieten und dasselbe wie der Mann, und dabei ist sie ihren spezifisch weiblichen Auf-
gaben im Haus und in der Familie entzogen und entfremdet worden. So hat die mo-
derne Frauenbewegung wie alles ANeuzeitliche zwei sich scheinbar entgegenstehende Ur-
sprungsquellen und Richtungen — eine individualistische und eine soziale. Dort han-
delt es sich darum, den Unterschied, der zu groß geworden ist, zu verkleinern, hier ihn
wieder mehr zu akzentuieren und die spezifische Eigenart der Frau wieder mehr zu
ihrem Recht kommen zu lassen. ODas erstere liegt vor allem im Interesse der Frau als
einer Persönlichkeit und soll ein Gewinn sein für sie als Kameradin ihres Mannes und als
Erzieherin ihrer Kinder. Bei der arbeitenden Frau liegt es mindestens ebensosehr
wie in ihrem eigenen, auch im Interesse von Gesellschaft und Staat, daß sie der Fa-
milie zurückgegeben wird und als Mutter und Hausfrau ihre Pflichten wieder besser
erfüllen kann.
Hier ist daher die Frauenfrage wesentlich eines der vielen Teilprobleme der großen
sozialen Frage im ganzen. Indem im Industrieftaat die Frau immer mehr zur Arbeiterin
wird und außer dem Haus Arbeit suchen muß und findet, treten für sie dieselben sozialen
Röte, Bedürfnisse, Forderungen und Schutzmittel auf wie für den arbeitenden Mann;
und da sie daneben doch immer auch Hausfrau und Mutter bleibt und bleiben soll, so“
kompliziert sich hier die soziale Frage noch einmal in besonders schwieriger Fassung und
Form: es ist das Problem des Schutzes der Lohnarbeiterin gegen übermäßige und so-
zialschädliche Ausbeutung ihrer A#rbeitskraft und speziell die Mutterschutzfrage, mit der
sich die sozialpolitische Debatte und die staatliche Gesetzgebung wie in allen Ländern
so auch bei uns theoretisch und praktisch vielfach beschäftigt.
Aber wie in Oeutschland unter den freiheitlichen Forderungen des Volkes die Preß-
freiheit historisch vorantrat, so in der Frauenbewegung die Forderung einer sei es nun
mit den Männern gleichen oder überhaupt nur einer höheren Bildung der Frau.
Sie hatte um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert Schleiermacher als Romantiker
in seinem „Katechismus der Vernunft für edle Frauen“ diesen als zehntes Gebot mit
auf den Weg gegeben: „Laß dich gelüsten nach der Männer Bildung, Kunst,. Wissen-
schaft und Ehre“. Schon damals war es eine individualistische Welle, wie ja die Roman-
tik überhaupt individualistisch war; und diese wuchs nun im Zeitalter Nietzsches zum Strom
heran, der gefestigte Dämme zerriß und alte Tafeln zerbrach: die Frauen wollten sich
geistig emanzipieren, sich frei und unabhängig machen, wollten mit einem Wort Persön-
lichkeiten werden. Das ist ein durchaus berechtigtes Streben, es fragt sich nur, wie
ihm Genüge getan werden kann und was aus so gebildeten Frauen werden soll; denn
angesichts der Uberzahl der Frauen spielen Erwerbs- und Berufssorgen doch auch hier
eine Rolle.
Zunächst kam der Sturm auf die Universitäten, die Forderung, der Frau das Stu-
dium auf diesen höchsten Bildungsanstalten zugänglich zu machen. Damit hatte man
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