Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
XII. Buch. Das öffentliche Leben. 39 
  
Verständnis wir es erziehen wollen. Wenn über Fragen der Kunst öffentliche Streitig- 
keiten ausbrechen — über die Aufstellung eines Brunnens mit nackten Figuren oder 
über die sogenannte lex Heinze im deutschen Reichstag —, so zeigt sich, wie hoch hin- 
auf die künstlerische Unbildung und die ästhetische Hilflosigkeit reicht und wie Meinlich und 
ängstlich die Menschen der Kunst gegenüber sind — gewiß nicht aus Bosheit, sondern aus 
Mangel an künstlerischem Sinn und an Erziehung zur reinen und freien Auffassung von 
Kunstwerken. Dezhalb fordert man „Volkskunst“ und fordert in Schriften und auf Kunst- 
erziehungstagen die künstlerische Erziehung der deutschen Zugend; und Männer wie Licht- 
wark in Hamburg machen es uns vor, wie wir es dabei anzufangen haben. Die Aufgabe 
ist Uar: das Volk so zu erziehen, daß es das Schöne als Schönes sieht und nicht überall 
nur Sinnenkitzel sucht und findet, es zu reinerem und feinerem Genießen emporzubilden 
und auf diese Weise allerlei böse Geister, vor allem den des Alkohols in unserem Volks- 
leben bannen zu helfen. Hier kann man im richtigen Sinn sexuelle Aufklärung und sexuel- 
len Anschauungsunterricht treiben, indem man die Kinder, noch ehe der Geschlechtstrieb 
erwacht, in Galerien oder sonst auf Bildern unbefangen nackte schöne Menschenkörper 
sehen läßt und sie so zum unsinnlichen Betrachten derselben und zu unstofflichem und in- 
teresselosem Wohlgefallen daran erzieht. Es ist das wirklich eine Schicksals- und Zukunfts- 
frage für unser von den Grazien nicht allzu reich mit Schönheitssinn ausgestattetes deutsches 
Volk und seine kulturelle Entwicklung. Auch unserem Kunstgewerbe werden diese Kunst- 
erziehungsbestrebungen zugut kommen und uns damit für den Wettbewerb mit anderen 
Nationen, wie er auf Weltausstellungen in die Erscheinung tritt, besser ausrüsten. 
Allein die Frage ist auf der andern Seite doch nicht abzuweisen, ob wir mit dem 
Strom von intellektueller Aufklärung und von künstlerischer Erziehung, den wir in der 
Volksbildungsarbeit immer reicher und voller sich über unser Volk in Stadt und Land 
ausgießen, nicht ein anderes Ubel, das der Halbbildung fördern und hervorrufen. Ich 
würde diesen Einwand für erheblicher halten, wenn ich nicht die Gegenfrage parat hätte: 
wer ist denn überhaupt ganz gebildet? und wenn ich in der Bildung etwas Fertiges 
und Abgegrenztes und nicht vielmehr vor allem die völlige Aufgeschlossenheit des Sinnes 
für alle neuen Eindrücke, die Aufnahmefähigkeit für alles Wahre und Schöne und Große 
und die absolute Duldsamkeit auch für andere abweichende Anschauungen und Bildungs- 
wege sähe. Es gibt keine abgeschlossene Bildung und keinen alleinseligmachenden Bildungs- 
weg. Deswegen mußte der eine Zeitlang auch die Offentlichkeit beschäftigende Streit 
zwischen „Humanisten“ und „Realisten“ mit der Anerkennung der GEleichwertigkeit 
beider Richtungen endigen, die in der Gleichstellung der Gymnasien und der Oberreal-= 
schulen ihren Ausdruck gefunden hat. Daß darum doch für gewisse Berufe und Studien 
der eine Weg vor dem andern den Vorzug verdient, bleibt davon unberührt und darf 
in der Prazxis nicht vergessen werden; wenn nur nicht Gründe einer falschen Vornehm- 
heit die Wahl des Weges bestimmen, kann man das Finden des Richtigen getrost der 
Sitte und dem gesunden Menschenverstand überlassen. 
Ein anderer Einwurf gegen die Volks- 
ndividualismus und Sozialismus. 
8 bildungsarbeit dringt tiefer Wonach haben 
  
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