42 Das öffentliche Leben. XII. Buch.
und mehr den Sieg davongetragen über die „Zdeen“ Humboldts. Schulen und Uni-
versitäten, Wissenschaft und Bildung sind verstaatlicht, und vielfach ist das Problem ge-
rade das, wie sie sich dem Staat gegenüber in ihrer Selbständigkeit behaupten oder we-
nigstens einen Rest von Selbständigkeit sich erhalten können. Der Staatssozialismus
beherrscht in Theorie und Prazis das wirtschaftliche Leben, wie umgekehrt dieses den
Staat und seine Gesetzgebung, die innere und die äußere Politik beherrscht. Der Ver-
kehr, der früher privat war, ist vom Staat monopolisiert und in Post und Eisenbahnen,
in Telegraph und Telephon zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden; und auch
das, was scheinbar privat geblieben ist, Handel und Industrie und Bankwesen, wird
dadurch zu einer öffentlichen Angelegenheit, daß sich große Verbände und Znteressen-
gemeinschaften bilden, die schon durch das Riesige und Großartige dieser Zusammen--
ballungen die öffentliche Aufmerksamkeit erzwingen; und weil so viele, aktiv oder leidend,
an ihnen partizipieren, ist an ihrem Prosperieren oder an ihrem Zusammenbrechen die
Gesamtheit irgendwie mitinteressiert; als Staat im Staat stehen sie dem wirklichen
Staat selbst wieder als Macht gegenüber und suchen auf seine Maßregeln und seine Gesetz-
gebung Einfluß zu gewinnen, ihn geradezu von sich abhängig zu machen. Unsere auf
immer zahlreichere privatim Beschäftigte und Angestellte sich ausdehnende BVersicherungs-
gesetzgebung, die schließlich jeden zum pensionsberechtigten Beamten macht, zeigt uns
dabei noch einmal die beiden Seiten einer solchen Erweiterung staatlichen Eingreifens
und staatlicher Fürsorge: indem sie den einzelnen in Krankheitsfällen und im Alter vor
der äußersten Not schützt, macht sie unser aller Leben sicherer und bequemer, nimmt
der Hilfe das Willkürliche und Zufällige und erspart viel unnötiges Sorgen und Besinnen;
aber auf der anderen Seite führt sie auch die Gefahr herauf, daß Wagemüut und eigene
Initiative zu früh erlahmen und über der Staatshilfe die Selbsthilfe versäumt wird; das
sittlich Kräftigende und Stählende in dem „Mensch, hilf dir selber" geht darüber verloren.
Oder: ein Streik ist an und für sich lediglich Privatsache; trotzdem kann er in Zustimmung
oder Verurteilung die öffentliche Meinung aufs heftigste erregen, mit ihrer Hilfe siegen
oder weil sie sich ihm versagt, unterliegen und schließlich, nicht erst durch den Terrorismus
gegen Arbeitswillige oder in der Form des Generalstreiks, zu einer öffentlichen Gefahr
werden und das Einschreiten der öffentlichen Gewalten nötig machen. ODas eben ist
das Eigentümliche an unserem modernen Leben, daß, was eben noch Privatsache gewesen
ist, im nächsten Augenblick schon zu einer öffentlichen Angelegenheit wird; das Umge-
kehrte, das Freilassen und Freigeben eines Staatlichen an die private Initiative ist
weit seltener. Darum gibt es kaum etwas, das man heute nicht zum öffentlichen Leben
rechnen könnte und das nicht eine dem öffentlichen Leben zugewandte Seite hätte.
So hat dieser Abschnitt in der Weite seiner Aufgaben, die in engem Rahmen nicht
erschöpft werden können, vieles von dem noch einmal berühren müssen, was in den ein-
zelnen Kapiteln dieses Werkes zerstreut je an seinem Ort ausführlicher dargestellt worden
ist. Das öffentliche Leben ist heute der große Leviathan, wie Hobbes den Staat ge-
nannt hat, das Ubergreifende und Allgewaltige, das alles verschlingt und dem-
gegenüber sich der einzelne nur mühsam in seiner Existenz und seinem Recht behauptet.
Wer sich von ihm nicht völlig verschlingen und um Schwungkraft, Initiative und Selb-
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