Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
X. Buch. Die Chemie. 151 
  
Forschungen aller Kulturländer sollen der Absicht des Buches entsprechend im folgenden 
naturgemäß die in Deutschland erzielten Fortschritte in erster Linie berücksichtigt werden. 
Nach diesen einleitenden Betrachtungen gehen wir zur Behandlung der Entwicklung 
der theoretischen Chemie, der Fortschritte der anorganischen und der organischen Chemie 
über. 
Entwicklung der Valenztheorie. Die Grundlage für unsere Ansichten über 
— den Bau der Moleküle chemischer Verbin- 
dungen ist August Kekulés Valenztheorie. Kekulés Valenztheorie war aus der 
Typentheorie von Charles Gerhardt abgeleitet: Valenz ist die „Idee der Typen“. 
Für Kekulé ist die Basizität oder Atomigkeit — den Ausdruck Valenz führte für diesen 
Begriff erst später Kekulés Schüler Wichelhaus ein — eine Grundeigenschaft der 
Atome, ebenso unveränderlich wie das Atomgewicht selbst. Bon Anfang an lag das 
Schwergewicht der Kekuléschen Valenztheorie auf dem Gebiete der organischen 
Chemie. Die Annahme der Verkettung der konstant vierwertigen Kohlenstoffatome 
untereinander und mit den Atomen anderer Elemente machte nicht nur die gewaltige, 
stets wachsende Zahl der Kohlenstoffverbindungen begreiflich, sondern sie bildete die 
Grundlage ebenso für das Verständnis der genetischen Umwandlungsreaktionen, wie 
sie den zielbewußten Aufbau der Kohlenstoffverbindungen ermöglichte. Freilich hatte 
schon vor Kekulé der Engländer Edward Frankland auf die Gesetzmäßigkeit aufmerk- 
sam gemacht, daß namentlich Stickstoff, Phosphor, Antimon und Arsen die Tendenz 
zeigen, Verbindungen zu bilden, in denen drei oder fünf Aquivalente anderer Elemente 
enthalten sind, allein ohne eine Hypothese hinsichtlich dieser Ubereinstimmung in der 
Gruppierung der Atome aufstellen zu wollen. Diese von Frankland für die Aquivalente 
hervorgehobene Gesetzmäßigkeit übertrugen Archibald Scott Couper, Alezrander 
Williamson, Joseph Loschmidt, Naquet, Emil Erlenmeyer'sen., Butlerow, 
Blomstrand u. a. m. auf die Atome, und so trat Kekulés Hypothese der konstanten 
Balenz die der wechselnden gegenüber. Kekulé hielt jedoch an der Konstanz der Valenz 
sest und erklärte die Verbindungen, die unter Annahme der konstanten Minimalvalenz 
überhaupt nicht zu formulieren waren, als Molekularadditionen. 
Den nächsten Fortschritt brachte 1874 die Theorie von van't Hoff und von Le Bel 
vom asymmetrischen Kohlenstoffatom, — auf das als Erklärungsmöglichkeit der Isomerie 
optisch aktiver Kohlenstoffverbindungen schon Pasteur hingewiesen hatte, — und damit 
die Annahme der im Naum nach den Ecken eines Tetraeders gerichteten VBalenzwirkungen 
des Kohlenstoffatomes, eine Annahme, von der A. v. Baepyers 1885 aufgestellte 
„Spannungstheorie“ ausgeht. 
Oie Weiterentwicklung der Valenztheorie erfolgte in neuerer Zeit hauptsächlich in 
zwei Richtungen. Man hatte anfangs daran festgehalten, daß die Wertigkeit oder Va- 
lenz eines Elementes entweder in geraden oder in ungeraden Werten wechseln könne. 
Allmählich gab man diese Beschränkung auf und nahm an, daß ein- und dasselbe Ele- 
ment wie z. B. Eisen sowohl zwei- und dreiwertig, Mangan zwei, drei- und vierwertig, 
Kohlenstoff zwei-, drei- und vierwertig wirken könne. Trotzdem boten noch eine große 
Anzahl Komplexsäuren und ihre Salze, die man als Anlagerungsprodukte fertiger Mole- 
  
1295
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.