600 Völkerrechtliche Lehre
mit Verbrechern betrachtet; während der Angeforderte sich be-
leidigt findet durch eine Zumuthung, welche ihm eine Barbarei
und deren Erfüllung ihm Feigheit erscheint. Die Klagen über
Belästigungen und Gefährdungen durch die jenseits beherbergten
Flüchtlinge reissen nicht ab; und schon in mehr als Einem Falle
ist die Erbitterung fast bis zur Kriegserklärung gestiegen, hat
wiederholt sehr herbe Gegenmaassregeln als Retorsion hervorge-
rufen. Und da sich die politische Leidenschaft bis zu Mordan-
fällen gesteigert hat, so hat auch das, an sich gewiss sehr
gerechte, Verlangen nach Beseitigung der Gefahr die Färbung
der persönlichen Beleidigung erhalten. Durch alles Dieses aber
ist ein hässlicher Misston in grosse Völkerverhältnisse gekommen
und ein neuer Zündstoff den ohnedem nur allzu zahlreichen,
früheren Streitgründen zugefügt. Und je weniger eine schnelle
Beruhigung der staatlichen Bewegungen und Versuche zu er-
warten, während die Schnelligkeit und Leichtigkeit der Verbin-
dungen unter Ländern, ja Welitheilen, ins Fabelhafte wächst:
desto sicherer wird das Uebel fortdauern und selbst zunehmen.
Die grosse Menge und Verschiedenheit der positiven Rechtsquellen
aber ist eine Qual nicht nur für die Uebersicht und Beherrschung
des Gegenstandes, sondern noch weit mehr für die Amtsthätig-
keit der Behörden aller Art. Es streift doch fast an das Lächer-
liche, wenn über diese einzige Frage ganze Sammlungen von
Verträgen von Einem Staate abgeschlossen und angewendet wer-
den, unter sich voll unmerklicher, spitzfindiger Unterschiede und
abweichender kleiner Bestimmungen.
Nun ist aber wohl unbestreitbar, dass die ganze Frage unter
Staaten wesentlich gleicher Gesittigung auf eine gleichmässige
Weise bestimmt werden könnte. Es ist ja — vielleicht mit ein-
zelnen, genau zu bezeichnenden Ausnahmen — dieselbe keine
Frage der Zeit, des Ortes, der Regierungsform; sondern eine
ganz allgemeine, menschliche. Eine einzige, keineswegs ausge-
dehnte Vereinbarung könnte freundliche Gesinnung unter den
Regierungen und Staaten und eine grosse Vereinfachung der
Geschäfte herbeiführen; und nichts wäre an sich möglicher, als
durch einen Congress eine solche Uebereinkunft zu Wege
zu bringen,