226 Zweiter Teil, Einleitung. $ 71. Die Staatsgewalt des Reiches, die Reichsgewalt, wird nur innerhalb eines von ihr selbst durch die (von ihr gegebene, ihrem abändernden Willen unbeschränkt unterworfene) Reichsverfassung begrenzten Wirkungskreises tätig. Sie beherrscht nicht nur die Staaten, sondern, in unmittelbarer Wirksamkeit, auch die einzelnen Reichsangehörigen, das Volk. Das Reich besitzt Verwaltungsbefugnisse nicht bloß in auswärtigen, sondern auch in inneren Angelegenheiten. Seine Gesetze verpflichten alle, die sie angehen, durch Publikation von Reichs wegen. Außer den Herr- schaftsrechten über die Untertanen stehen dem Reiche aber auch Hoheitsrechte über die Einzelstaaten zu, denen bestimmte Pflichten der letzteren gegenüber dem Reiche entsprechen. Das Reich hat die Befugnis, die Kompetenzverteilung zwischen sich und den Einzelstaaten zu regulieren; es kann insbesondere den letzteren Hoheitsrechte, sofern dieselben nicht den Charakter so- genannter Sonderrechte besitzen, durch einen Akt seiner Gesetz- gebung entziehen. Die Reichsgewalt ist daher die einzig souveräne Gewalt in Deutschland?®, 8. Die Glieder des Reiches haben den Charakter von Staaten. Ihre Gewalt ist nicht vom Reiche abgeleitet, sondern ruht auf eigenem Recht. Es ist ihnen eine Reihe von Angelegenheiten (Bund und Reich, Preuß. J. 84 536, äbnlich Politik 2 339 ff.) sagt: „Unser eich ist in Wahrheit der die Mehrheit der Nation unmittelbar beherrschende preußisch-deutsche Einheitsstaat, mit den Nebenlanden, welche seiner Krone in föderativen Formen untergeordnet sind, oder kurz: die nationale Monarchie mit bündischen Institutionen“, so sollen damit — auch wohl nach der An- sicht des Verf. — mehr die politisch wirksamen Kräfte im Reiche bezeichnet als eine staatsrechtliche Konstruktion seiner Verfassung gegeben werden, [Gleicher Ansicht wie Treitschke: Klocppel, Verfassungsgesch. 1 216. Die Auffassung des Reiches als eines Bundesstaates teilen ferner das Reichs- gericht (RG. 44 380; vgl. Laband, Staatsr. 1 88) und, allen Widerlegungs- versuchen zum Trotz, auch die Reichsregierung: Rehm, Allg. Staatsl. 93 f. Daß endlich und nicht zuletzt Bismarck seine politische Schöpfung nicht bloß für einen Staatenbund, sondern für einen Bundesstaat gehalten hat, ist nicht zu bezweifeln: vgl. Rosin, Grundzüge einer allgem. Staatsl. nach den polit. Reden u. Schriftstücken des Fürsten Bismarck, in Ann.D.R. (1898) 124, insbes. Anm. 323; Anschütz, Bismarck und die Reichsverfass. 12 ff.; v. Roll u. Epstein, Bismarcks Staatsrecht (Berlin 1908) 1 ff.] 8 Haenel, Deutsches Staatsr. 1 798 behauptet, das Deutsche Reich als zentrale, den Einzelstaaten gegenübergestellte Organisation sei Staat im vollen Sinne des Wortes, und $. 806, unter dem Gesichtspunkte der verfassungsmäßigen Kompetenzen betrachtet, sei das Reich der deutsche Staat schlechthin. Derartigen Außerungen vermag man einen erheb- lichen Wert nicht beizumessen. Sofern mit denselben gesagt sein soll, daß das Deutsche Reich direkte Herrschaftsrechte über seine Untertanen ausübt, das oberste politische Gemeinwesen ist, insbesondere das Recht der Kom- Retenzregulierung und alleinige Souveränetät besitzt, sind sie ja zutreffend. ach ihrer Formulierung scheint es aber, als ob das Reich vollständig mit dem Einheitsstaate identifiziert werden sollte. Ein solche Auffassung würde mit den Tatsachen nicht im Einklang stehen. — Ganz verfehlt und durchaus willkürlich ist die Behauptung von Ruville, das Deutsche Reich sei ein monarchischer Einheitsstaat (Das Deutsche Reich, ein monarchischer Einheits- staat, Berlin 1894).