186 Biertes Buch. Die Gesetzgebung des Deutschen Neiches. Reichstagspräfidenten 1. Die richtige Beantwortung der sich hieran knüpfenden Streitfragen, welche der Reichstag am 29. März 1898 einer Kommission überwies, hat im Wesentlichen der Staatssecretär des Reichsjustizamts, Nieberding, gegeben. Die Berichtigungen oder Belehrungen haben gar keine formelle Bedeutung. Sie verpflichten vom rechtlich-formellen Standpunkt aus Niemanden; sie find vielmehr nur und dürfen nur sein ein praktischer Hinweis, etwa wie der eines Commentars. Die Gerichte und die Behörden haben das Gesetz in der Weise anzuwenden, wie es nach dem erklärten, nach dem ausgesprochenen, nicht bloß zu ver- muthenden Willen der beiden Körperschaften von ihnen gemeint war. Die Gerichte und andere Behörden werden daher eine durch Schuld des Schriftführers vor- genommene falsche Allegirung oder falsche Stellung eines Satzes nicht berück- sichtigen. Liegt der Fehler aber in der Erklärung, in dem erklärten Willen, so bedarf es eines neuen Gesetzes; denn Gesetz ist, was der Gesetzgeber erklärt hat, auch dann, wenn er sich bei Abgabe der Erklärung in einem Irrthum befunden hat. 8 26. Erschwerte Gesetzebung. Verfassungsänderungen, vertragsmäßige rundlagen, Sonderrechte. Art. 78, Abs. 1 der Reichsverfassung bestimmt: „Veränderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung. Sie gelten als abgelehnt, wenn sie im Bundesrathe 14 Stimmen gegen sich haben." Als Verfassung im gemeingebräuchlichen Sinne gilt nicht der Inbegriff aller Vorschriften über die Grundform und üÜber die Organe des Staates oder über deren Funktionen und Aufgaben, sondern nur der Inbegriff der in der Verfassungs- urkunde enthaltenen Vorschriften oder, noch genauer, nur die Verfassungsurkunde selbst. Das Gesetz, betr. die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871, und die diesem Gesetze beigefügte „Verfassungsurkunde '“ begreifen das Wort Verfassung nur im letzteren Sinne . Ebenso verstehen die Preußische Ver- fassungsurkunde, das preußische Staatsrecht und die Geschäftsordnungen für die preußischen Kammern unter „Verfassung“ nicht den Inbegriff sämmtlicher auf die Verfassung des preußischen Staates sich beziehenden und dieselbe regelnden Vor- schriften, also z. B. nicht die Kreis= und Provinzialordnungen, noch Gemeinde= und Städteordnungen, sondern nur die Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 mit den sämmtlichen seitdem vorgenommenen Abänderungen und zu Theilen der Ver- fassung erklärten Zusätzen 3. Aus alledem ergiebt sich, daß als Verfassung im Sinne des Art. 78, Abs. 1 nur die Verfassungsurkunde für das Deutsche Reich gilt. Gesetze, welche die Reichsverfassung ändern, find dadurch allein nicht ein Theil der Verfassung geworden; dies sind sie nur, wenn und soweit sie dazu er- klärt sind, oder wenn ihr Wortlaut an Stelle des bisherigen Wortlauts der Ver- fassungsurkunde getreten oder diesem Wortlaute angefügt worden ist. So find „Verfassung“ geworden die Worte „desgleichen die Seeschiffahrtszeichen u. s. w.“ bis „Tagesmarken“ des Gesetzes vom 3. März 1873 (R.-G.-Bl. 1873, S. 47), die Worte „gesammte bürgerliche Recht" des Gesetzes vom 20. Dezember 1873 (R.-G.-Bl. 1873, S. 379), das Wort „fünf“ (früher in drei in Art. 24) des Gesetzes vom 19. März 1888 (R.-G.-Bl. 1888, S. 110). Nur soweit fie „Verfassung“ in diesem Sinne geworden find, unterliegen verfassungsändernde Gesetze der Vorschrift in Art. 78, anderenfalls können sie mit einfacher Mehrheit im Bundesrathe abgeändert werden. Es war lange streitig, ob als Aenderung der Reichsverfassung auch die Zuständigkeitserweiterung gilt, oder, anders ausgedrückt, ob durch ein dem Art. 78 entsprechendes Gesetz die Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung und des 1 Vgl. hierzu die Reichstagsverhandlungen Seyd el, Comm., S. 413 f., u. A. m. vom 29. März 1898 (Sten. Ber. S. 1863 8 l Schwattz,Comm.znArt.107teuß. IEbeuioünel,Staatsrecht,l,S.774,!Verfassung,Arndt,Preuß.Verf.,S.17.