37 Abgeordnete wegen ihrer in Ausübung ihres Be- rufs gemachten, nach allgemeinen Regeln straf- baren Außerungen zur strafrechtlichen Verant- wortung gezogen werden könnten, zu verneinen sei. Die Richtigkeit dieser Ansicht mag dahingestellt bleiben; jedenfalls käme den Abgeordneten bei dem Mangel sonstiger positiven Vorschriften der § 193 des Strafgesetzbuchs mit noch größerem Recht in einem solchen Fall zunutze als in dem unter Nr 2 erörterten Fall außerparlamentarischen Auftretens. Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Redefreiheit mißbraucht werden kann und auch mißbraucht worden ist. Dem steht gegenüber, daß sie auch zur Aufdeckung und Abstellung von Schä- den dienlich gewesen ist, an die bei mangelnder Immunität ein Abgeordneter zu rühren nicht ge- wagt haben dürfte. Den Nachteilen für einzelne, die übrigens nicht schutzlos dagegen sind, steht der Nutzen für das Gemeinwohl gegenüber; es scheint richtiger, jene mit diesem in den Kauf zu nehmen, als mit der Vermeidung jener diesen zu schmälern. V. Entschädigung. Die Frage, ob den Ab- geordneten für den zur Ausübung ihres Berufs erforderlichen Aufwand eine Entschädigung und welche zu gewähren sei, ist von der Gesetzgebung der verschiedenen Länder im Lauf der Zeit sehr verschieden beantwortet worden. In England finden sich schon im 14. Jahrh. Bestimmungen, welche die bis dahin schwankende Vergütung für die Unterhausmitglieder regeln; bereits für die erste Hälfte des 17. Jahrh. aber wird als allgemeine Sitte berichtet, daß die Abgeordneten auf die Ent- schädigung Verzicht leisteten; und nach 1661 soll kein Fall mehr vorgekommen sein, daß ein Ab- geordneter die Entschädigung liquidiert habe. Dar- aus wird von einer Seite das Erloschensein der Bezugsberechtigung gefolgert, während von anderer Seite das Fortbestehen derselben als nicht dem ge- ringsten Zweifel unterliegend bezeichnet wird. In Frankreich hat die Gesetzgebung in diesem Punkt gewechselt; in den ersten Jahren der Republik wurde keine Vergütung gewährt, wohl aber seit 1795; in der Charte von 1814 wurde der Grund- satz der Schadloshaltung wieder fallen gelassen, in der Konstitution von 1848 wieder aufgenommen. Die aus dem Ende des 18. oder Anfang des 19. Jahrh. stammenden, unter dem maßgebenden Einfluß Frankreichs stehenden Verfassungen ver- halten sich entsprechend. Zur Zeit bekennen sich sämtliche konstitutionellen außerdeutschen Staaten, auch diejenigen, welche wie Nordamerika die Verfassungsgrundsätze dem englischen Recht nach- gebildet haben, Italien ausgenommen, zu dem Grundsatz, daß den Abgeordneten eine Entschädi- gung zu gewähren sei. Teils ist der Grundsat allein teils auch die Höhe der Leistung verfassungsmäßig festgelegt; meistens ist die letztere, weil sie eine öftere Anpassung an veränderte Verhältnisse er- sfordert, der einfachen Gesetzgebung vorbehalten. In Portugal wird die Vergütung für eine Legis- laturperiode in der letzten Session der ablaufenden Abgeordneter. 38 festgestellt, in Osterreich alljährlich durch den Land- tag selbst. Nicht bloß was die Höhe der Ent- schädigung anlangt, herrscht große Verschiedenheit, sondern auch darin, ob eine Bauschalsumme oder Tagegelder gegeben werden; dazu kommt meistens eine Entschädigung für die Reise zu und von der Versammlung. Einzelne Staaten unterscheiden, ob die Abgeordneten am Sitz der Versammlung ihren ständigen Wohnsitz haben oder nicht, und ge- währen im ersteren Fall gar keine oder geringere Entschädigung. Sehr oft findet sich die Bestim- mung beigefügt, daß die Abgeordneten auf die Vergütung nicht verzichten können Italien allein gewährt seinen Abgeordneten keine Vergütung, son- dern nur freie Fahrt auf den Eisenbahnen und Dampfschiffen der vom Staat subventionierten Gesellschaften. Daß die Entschädigungen aus der Staatskasse gezahlt werden, liegt in der Natur des konstitutionellen Systems, indem, wie unter Nr 1. auseinandergesetzt ist, die Abgeordneten nicht im Auftrag bestimmter Wählerkreise in der Versamm- lung erscheinen, sondern als Vertreter des gesamten Volkes. Als eine Bestätigung für diese Begrün- dung kann es gelten, daß die Diäten für die Land- tagsmänner des finländischen Landtags, der auf ständischer Grundlage aufgebaut ist, nicht aus der Staatskasse gezahlt, vielmehr von sämtlichen Wahl- berechtigten des Bezirks in einem vor der Wahl zu bestimmenden Betrag liquidiert werden müssen (Landtagsordn. von 1869 § 20). — Ganz die- selben untereinander abweichenden Erscheinungen weisen die gesetzlichen Bestimmungen der deutschen Staaten auf. Sämtliche Bundesstaaten gewähren Entschädigungen. Preußen (Art. 85) hat die Ver- pflichtung „zur Zahlung von Reisekosten und Diäten“ verfassungsmäßig festgelegt mit dem Hin- zufügen, daß ein Verzicht darauf unstatthaft sei. Die Höhe zu bestimmen, ist dem Gesetz vorbehalten. Das Gesetz ist erst unter dem 30. März 1873 ergangen; bis dahin wurden diejenigen Bestim- mungen analog angewendet, welche über die Ver- gütung für kommissarische Geschäfte in königlichen Dienstangelegenheiten gelten. Über die gesetzlichen Bestimmungen der einzelnen deutschen Bundes- staaten berichten die betreffenden Landesartikel. Das Deutsche Reich zahlte bis 1906 den Reichs- tagsmitgliedern keine Entschädigung; der Art. 32 der Reichsverfassung bestimmte vielmehr: „Die Mitglieder des Reichstags dürfen als solche keine Besoldung oder Entschädigung beziehen.“ Doch wurde auf Grund eines Bundesratsbeschlusses den Abgeordneten freie Fahrt auf den Eisen- bahnen zwischen ihrem Wohnort und Berlin, ferner freie Gepäckbeförderung bis zu 50 kg für die Dauer der Session sowie acht Tage vor Beginn und nach Schluß derselben gewährt. Das Verbot des Art. 32 hat verschiedene Aus- legung erfahren; einige verstanden es dahin, daß nur Zahlungen aus öffentlichen Mitteln un- zulässig seien, andere dagegen ganz allgemein, so daß auch Privatdiäten, etwa solche aus Partei- 27