99 Exterritorialität. 1. Exterritorialität ist die ausnahmsweise Rechtsstellung, der zufolge be- stimmte Personen und Personengemeinschaften wie auch zu denselben gehörige Sachen der souveränen Gewalt (dem imperium) desjenigen Staates, in welchem sie sich befinden, entrückt sind. Die ältere Doktrin stellte die Rechtsfiktion auf, als ob Staats- häupter und deren Abgesandte, welche im Ausland verweilen, ihren Heimatstaat gar nicht verlassen hätten. Sie sagte: fingitur eos extra terri- torium (des Aufenthaltsstaates) esse oder fingi- tur tamquam domi essent. Mittels einer der- artigen Fiktion wollte man diesen Personen im Ausland grundsätzlich und unbedingt die Unver- letzlichkeit ihrer Person und die volle Handlungs- freiheit gewährleisten, da im Mittelalter Ge- fangennehmungen und Vergewaltigungen frem- der Fürsten in andern Ländern nichts Seltenes waren. Als mit der Zunahme der Verkehrsbezie- hungen die Entsendung von Gesandtschaften, be- sonders nach dem näheren und ferneren Orient, immer häufiger stattfand, erschien der gesicherte Schutz der an diesen Orten amtstätigen gesandt- schaftlichen und konsularen Organe dringend ge- boten. Indessen bedurfte und bedarf es einer ge- künstelten Konstruktion, die im Völkerrecht nicht minder verwirrend ist wie auf andern Gebieten der Rechtslehre, gar nicht, um der Exterritorialität die rechtliche Unterlage zu geben. Richtig wird man sagen können, die Exterritorialität bestehe darin, daß die Personen und Gegenstände, denen sie zukommt, von der souveränen Gewalt des fremden Landes entweder gar nicht, oder doch nicht in bestimm- ten rechtlichen Beziehungen berührt werden. Die Exterritorialität ist keineswegs ein privilegiertes Staatsfremdenrecht, wie gelehrt wurde; sie ist die freiwillige Einschränkung der Gebietshoheit mit der Wirkung, daß sie die sog. exterritorialen Personen und Sachen nicht oder nicht vollständig ergreift. Art und Maß dieser Begrenzung der Territorialgewalt zugunsten der Exterritorialen können sehr verschieden sein. Die Gerechtsame der exterritorialen Personen sind keineswegs unter allen Umständen und überall die gleichen. Da die Frage betreffs der Exterritorialität und ihres Umfanges zumeist bezüglich der auswärtigen Missionen prak- tisch wird und eine reiche privat= und strafrecht- liche Kasuistik aufzuweisen hat, ist auch wissen- schaftlich der Sitz dieser Materie die Lehre von den Organen des völkerrechtlichen Verkehrs. 2. Exterritorial sind: a) der fremde Staat selbst; b) das fremde Staatsoberhaupt; c) die diplo- matischen Vertreter fremder Staaten; d) fremde Truppenkörper sowie fremde Staatsschiffe; e) die Jurisdiktionskonsuln und die Delegierten inter- nationaler Kommissionen, allerdings mit beträcht- lichen Einschränkungen. Die Angehörigen der christlichen Mächte ge- nießen in den nichtchristlichen Ländern auf Grund der sog. Kapitulationen eine weitgehende Be- freiung von der Gebietshoheit des Aufenthalts- Exterritorialität. l 100 staates. In China sind die Niederlassungen der Europäer (settlements, concessions) der chine- sischen Justiz und Verwaltung entrückt. Ad a) Aus der vollen Unabhängigkeit sou- veräner Staaten folgt ihre Exterritorialität. Die Ausübung der inländischen Gerichtsbarkeit gegen einen auswärtigen Staat sowie gegen das Ober- haupt eines solchen Staates ist ausgeschlossen. Kein Staat kann vor die Gerichte eines andern Staates gestellt werden, es sei denn daß es sich um den ausschließlichen dinglichen Gerichtsstand handelt oder daß er sich freiwillig der inländischen Gerichtsbarkeit unterwirft. Um Vorgängen vor- zubeugen, durch welche in die Souveränität frem- der Mächte eingegriffen wird, indem Gerichte den Rechtsweg gegen auswärtige Staaten für zulässig erachten, ist in neueren Gerichtsverfassungsgesetzen der obige in der völkerrechtlichen Praxis unbestrit- ten anerkannte Rechtssatz ausdrücklich festgelegt. Die Meinung, daß der Staat, soweit er nicht als solcher, sondern als Fiskus oder als wirtschaftlicher Unternehmer auftritt, den inländischen Gerichten auch gegen seinen Willen unterworfen sei, läßt sich schon wegen der Schwierigkeit der Abgrenzung der staatlichen Interessengebiete praktisch nicht halten. Auch privatrechtliche Streitigkeiten zwi- schen selbständigen Staaten können nicht anders als auf dem Wege gütlicher Vereinbarung oder durch Schiedsspruch erledigt werden. Ad b) Das Staatsoberhaupt ist im unein- geschränkten Besitz der Repräsentativgewalt. Als Inhaber derselben kann das Staatsoberhaupt keiner fremden Willensmacht unterworfen sein, auch nicht im Ausland. Es macht dabei grund- sätzlich keinen Unterschied, ob es sich um einen Souverän oder um den Präsidenten eines Frei- staates handelt, ob letzterer in Staatsgeschäften oder aus anderem Anlaß im Ausland verweilt. Auf diese Eigenschaft zu verzichten, steht dem Be- treffenden nur zu, wenn er sie an und für sich hat, also den Herrschern selbst, nicht aber ihren Ge- sandten. Auf Familienmitglieder des Staats- oberhauptes findet die Exterritorialität so lange Anwendung, als sie sich in Begleitung desselben im Ausland aufhalten. Das gleiche gilt von den zum Gefolge des Staatsoberhauptes ge- hörigen Personen und von solchen Bediensteten desselben, welche nicht dem Staate zugehören, in welchem er zeitweilig Aufenthalt nimmt. Auf die exterritoriale Stellung kann sich das Haupt eines Staates nicht berufen, das in die Dienste eines fremden Staates tritt. Eine solche Doppelstellung kann zu Unzuträglichkeiten führen und hat einst- mals unter den deutschen Kleinstaaten wiederholt dazu geführt. Die dem Souverän zukommenden Bevorzugungen gebühren mit Ausnahme der Titu- latur auch den Reichsverwesern und Regenten, da auch sie souveräne Organe ihres Staates sind. Mit- glieder des regierenden Hauses haben auf Exterri- torialität keinen Anspruch; doch wird sie, allerdings nur aus internationaler Höflichkeit, der Gemahlin