107 Verbot der Verwandtenehe wurde allmählich die Macht der Sippe bedeutungslos. Die gleichen sittlichen Pflichten für beide Ehegatten schafften der Familie eine bessere und festere Grundlage und schützten Frau und Kinder vor der Willkürherr= schaft des Mannes. Die Familie wurde geadelt durch die Aufgabe, Kinder für das Gottesreich zu erzeugen und zu erziehen. Nicht erst vom christlichen Standpunkt aus sondern schon auf Grund einer exakten Geschichts- forschung müssen wir jene Versuche zurückweisen, die eine allmähliche Entwicklung der Familien= organisation aus einem unorganisierten Geschlechts- leben heraus aufstellen. Lediglich eine Uberspan- nung des Entwicklungsgedankens konnte die Ge- schichte der Familie einzwängen wollen in Entwick- lungsstufen, beginnend mit der Promiskuität, dem regellosen Geschlechtsverkehr ohne bindende Formen (Spencer, Lubbock, Morgan u. a.). Von der Wissenschaft ist bis jetzt noch kein einziges Volk, auch nicht auf der untersten Kulturstufe, nachge- wiesen worden, dessen Geschlechtsverhältnisse auch nur hindeuteten auf einen Zustand der Promiskui- tät (Große, Ratzel, Peschel, R. Hildebrand, Below). Vielmehr konnte festgestellt werden: „Die festgefügte Familie ist keineswegs eine späte Er- rungenschaft der Zivilisation, sondern sie besteht schon auf der untersten Kulturstufe als Regel ohne Ausnahme“ (Große). Auch die damit zusammenhängenden Versuche von Bachofen, Morgan u. a., eine Entwicklungs- geschichte der Familie auf dem Mutterrechte aufzubauen, müssen als verfehlt zurückgewiesen werden. Unter Mutterrecht bezeichnet man jenes System der Familienorganisation, wonach das Kind nicht zum Vater in einem juristischen Ver- wandtschaftsverhältnis steht, sondern zur Mutter und zu einer Person, die mit der Mutter wieder eine gemeinsame Mutter hat. Bei einigen wenigen Völkern kommt dieser Zustand vor. Daß er aber der Rest einer ersten Entwicklungsstufe sei, dagegen erklärt sich sehr scharf die historische Kritik (Del- brück, Ratzel, Zimmer, Westermark, Große, Bren- tano, Hildebrand). Below sagt mit Recht: „Un- zulässig ist. Erscheinungen, die sehr gut Produkte einer späteren Entwicklung bzw. Entartung sein können, ohne weiteres als Uberbleibsel eines Ur- zustandes zu bezeichnen.“ Wenn von Mutterrecht die Rede ist, muß man scharf unterscheiden, ob damit die Mutterfolge und die weibliche Linie oder aber das Matri- archat, die Weiberherrschaft (Gynokratie), gemeint ist. Sehr oft werden diese Begriffe ver- mengt. Eine eigentliche Weiberherrschaft scheint nur bei den Huronen und Irokesen bestanden zu haben. Was aber die häufiger vorkommende Mutterfolge anbetrifft, so ist auch sie nicht aus vorherbestehender Promiskuität zu erklären. Ratzel sagt darüber: „Man hat hierin den Rest einer ehe- losen Zeit sehen wollen, aber es kann ebensogut die Ausgeburt einer späteren juristischen Tüftelei Familie. 108 sein, wie sie gerade den mit Rechtsfragen sich sehr gern beschäftigenden Negern oder Indianern nicht fernliegt.“ Große erklärt die Mutterfolge einfach aus der Scheu vor blutsnaher Vermischung. Westermark führt die Mutterfolge zurück auf die Vielweiberei. Bei manchen Stämmen wohnen die Weiber desselben Mannes in getrennten Hütten mit ihren Kindern, um Streitigkeiten zu verhüten. Am leichtesten und sichersten wurden und werden da die Kinder desselben Vaters nach der Mutter- linie berechnet und unterschieden. Bei schwachen Stämmen möchte im Interesse der Selbsterhaltung und Wehrhaftigkeit das Mutterrecht durch- gedrungen sein, indem Ehen mit fremden Stamm- angehörigen nur unter der Bedingung geschlossen wurden, daß der Mann und die Kinder der Mutter folgten und so den Stamm verstärkten. Die Formen der Familie, die sich geschicht- lich feststellen lassen, können unterschieden werden in Polyandrie (Vielmännerei), Polygamie (Viel- weiberei) und Monogamie (Einehe). Die Levirats- ehe der Juden bildete keine besondere Form der Familie, denn die ehegesetzliche Vorschrift machte lediglich dem nächsten Verwandten eines kinderlos Verstorbenen zur Pflicht, diesem mit der Witwe Nachkommenschaft zu erwecken. Innerhalb der auf- gezählten Formen der Familie kann man weiter- hin Endogamie oder Exogamie feststellen, je nach- dem, wie etwa bei den Persern, die Frau grund- sätzlich aus derselben Familie genommen wurde oder aber außerhalb der Verwandtschaft gewählt werden mußte. Auch Beispiele örtlicher Endo= und Exogamie finden sich. Die Polyandrie läßt am wenigsten ein gesundes Familienleben mit richtiger Kindererzie- hung aufkommen, da sie häufig mit Unfruchtbarkeit geschlagen ist, da der Vater des Kindes meist un- bekannt bleibt und so das Autoritätsprinzip schwer geschädigt wird. Allerdings ist die Vielmännerei dort, wo sie auftritt, gewöhnlich durch Stammes- satzung geregelt und darf nicht mit Zügellosigkeit verwechselt werden. Sie hat durchschnittlich ihren Grund in dem Mangel an Frauen, und gewöhn- lich war nur Brüdern gestattet, mit derselben Frau und im gemeinsamen Besitz ihrer Kinder zu leben. Die Polyandrie kommt nur bei tief gesunkenen Völkern und Stämmen vor, so z. B. bei den Alöuten und Konjagen u. a. Aus der vorchrist- lichen Geschichte ist die Sitte bei den Spartanern öffentlich anerkannt gewesen. Viel häufiger als die Vielmännerei findet sich die Vielweiberei. Sie ist heute noch durch den Mohammedanismus eine weitverbreitete Form der Ehe. Bei vielen Naturvölkern wird sie eben- falls, soweit es die Mittel erlauben, geübt. Auch die Polygamie verkümmert die Familie. Denn sie läßt kein wahrhaft sittliches Verhältnis zwischen Mann und Frau aufkommen. Die Frau ist ent- würdigt. Ein ebenbürtiges Verhältnis zwischen den Ehegatten ist da unmöglich. Der Keim zu Intrigen von Neid und Eifersucht ist gegeben