563 geschichtlicher Rückschau über einzelne und alle. Das Gleichartige und Beharrende in den Bedürf- nissen der Völker erzeugt eine gewisse Verwandt- schaft ihrer staatlichen Einrichtungen. Es lassen sich Formen von typischer Bedeutung erkennen und in den Veränderungen dieser Formen typische Regelmäßigkeiten, so daß man allerdings unter Anwendung einer gewissen Vorsicht zugeben kann, daß das staatliche und gesellschaftliche Leben selbst wieder einer gesetzmäßig verlaufenden „Entwick- lung“ unterliege. Dieser Begriff ist genommen von Erscheinungen im Leben von Organismen und läßt sich auf die Gesellschaft nur da anwenden, wo sich etwas ihnen Gleichartiges erkennen läßt. Die Gesellschaft, ganz besonders die als geordnet betrachtete, stellt sich als eine Lebenseinheit dar; es besteht Wechselwirkung zwischen einzelnen und Gesamtheit; Verrichtungen sind in bestimmter Ordnung an dienende Organe verteilt. Es exi- stiert ein beständiger Erneuerungsprozeß der Teile bei gleichbleibender Form des Ganzen und dann wieder ein Wachstum des Ganzen ohne Ver- änderungen der Elemente, ferner die Fähigkeit, Störungen von innen heraus auszugleichen. Wie beim einzelnen, zeigen sich bei der Gesamtheit geistige Kräfte, bei letzterer allerdings durch ganze Gruppen und kleine Gesamtheiten dargestellt. Die Vergleichung von Gesellschaft und Organismus kann aber leicht zu weit gehen, und dies würde geschehen, wenn die menschliche Persönlichkeit in ihrer Eigenschaft, abhängiges Glied im Organis- mus zu sein, aufgehen würde und man so zu dem Satze gelangte, daß, wie der einzelne moralischen, so die Gesellschaft Naturgesetzen unterliege. Insbesondere nannte man Entwicklungs- gesetze jene Gesetze, welche die Geschicke der Ge- sellschaft im weitesten Sinne, also der Menschheit, ersichtlich machen sollten. Die Wissenschaft von ihnen und von den Grundideen, von welchen be- deutende Individuen und ganze Perioden und Völker geleitet worden sind, gilt bald als Aufgabe der Geschichtsphilosophie bald als Kulturgeschichte bald als Soziologie. Unter dem Einfluß natur- wissenschaftlichen Ubereifers, vielleicht auch nicht genügend vorsichtiger Rechtsvergleichung, behan- delte man liebevoll die Hypothese, der Mensch habe sich aus tierischer Roheit erhoben. Eine Reihe von Gelehrten (Bachofen, Morgan, Post, Lippert) verwarf die Annahme, die patriarchalische Familie sei der Ausgangspunkt gewesen, und be- hauptete die ursprüngliche Abwesenheit der Ehe, die Bestimmung der Verwandtschaft durch die Mutter (uterine Gentilverfassung, Mutterrecht), das ursprüngliche Recht des Kindermordes, der Preisgebung der Kranken und Alten. Die christ- liche Anschauung, durch welche solche Verirrungen der „Naturvölker“ als nachträglich eingetretener Verfall erklärt wurden, fand ihre Bestätigung durch die exakte Forschung, welche nachwies, daß jene angeblichen Urzustände keineswegs allgemein nachweisbar sind. Gesellschaft usw. 564 Wie für die Urzeit, fehlt es auch für die histo- rische Zeit nicht an Vorschlägen von Entwicklungs- gesetzen, an geschichtsphilosophischen Bauten, an Verallgemeinerungen des einen oder andern meistens immerhin eine gewisse Wahrheit ent- haltenden Grundgedankens. Mit dem von den alten Chronisten als Faden der geschichtlichen Betrachtung benutzten Danielschen Bilde von den vier Weltmonarchien brach die humanistische Hi- storiographie. Machiavelli (s. d. Art.), Bodin (s. d. Art.) u. a. suchten die Geschichte nur aus sich zu erklären, ersterer mit seinem Kreislauf der Staatsformen, letzterer von ursprünglicher Roheit ausgehend. Von da ab mehrten sich die Dar- stellungen der Entwicklung der menschlichen Ge- sellschaft wie der einzelnen Völker, nicht ohne mit- unter der Gefahr pantheistischer Anschauungen zu unterliegen. Im 19. Jahrh. schrieb Hegel in Ver- tretung des antiken Staatsgedankens seine Ge- schichtsphilosophie, indes Krause die Gesellschaft mehr berücksichtigte. Ganz besonderes Augenmerk auf diese richtete L. v. Stein. Er teilte ab: Ge- schlechterordnung, ständische oder Berufsordnung, staatsbürgerliche Ordnung, deren wirkende Kraft die kapitalbildende Persönlichkeit sei. In Roschers lange Zeit maßgebender Volkswirtschaftslehre hie- ßen die Typen: mittelalterliches, blühendes, sinken- des Volk (s. darüber Bruder in der Monatsschrift für christl. Sozialreform 111879.). Nach Roscher war für das jugendliche Deutschland die kanoni- stische Wirtschaftsverfassung ebenso berechtigt wie für die Blütezeit die volle wirtschaftliche Freiheit. Es war dies immerhin noch ein Fortschritt gegen- überdem dievorsmithschen Wirtschaftsanschauungen überhaupt bemitleidenden Manchestertum. Nach christlicher Anschauung ist das Gesetz des Fortschrittes ein durchaus freies, frei seitens der einzelnen, frei seitens der Gesellschaft; sie bemißt den Fortschritt nach der Verwirklichung der christ- lichen Grundsätze. Nur durch diese hält sie das Ziel, die steigende Wertschätzung der menschlichen Persönlichkeit, auf die Dauer für erreichbar. Auf die Verwirklichung der Sittlichkeit als Maß der Kultur wird nicht etwa bloß von katholischer Seite der Nachdruck gelegt. Nach Rümelin (Reden [18811 142) besteht das Gesetz des Fortschrittes darin, daß das Gute aus dem flüssigen und un- sichern Element freier Sittlichkeit von einzelnen sich zu den festeren Formen rechtlicher Ordnung und herrschender Sitte verdichte. Der von den Materialisten angewendete Maßstab steigender Beherrschung der Natur ist für die edle geistige Beschaffenheit des Menschen ein zu roher und äußerlicher. Ob die Einführung oder Wieder- herstellung einer den christlichen Grundsätzen völlig entsprechenden Gesellschaftsordnung irgendwo in der Welt in absehbarer Zeit zu erwarten steht, ist an dieser Stelle nicht zu erwägen. Unverrückt und unverdunkelt aber muß zu allen Zeiten ein solches Ideal der praktischen sozialen Arbeit aller christ- lichen Gesellschaftsglieder vorschweben; denn aus