19 Was ist demnach der Kapitalismus? Wir verstehen darunter jenes volkswirtschaft- liche System, in dem das Kapital zu dem die Produktion und die Vertei- lung des Produktionsertragesbeherr- schenden Faktor gegenüber dem andern wirtschaftlichen Faktor, der mensch- lichen Arbeit, geworden ist. Dieses Über- gewicht des Kapitals über die Arbeit besagt keineswegs, daß das Kapital zu höheren An- sprüchen berechtigt ist als die Arbeit, sondern es bezeichnet dasselbe lediglich einen gegebenen Tatbestand, das Ergebnis einer gewissen histo- rischen Entwicklung. Diese hat dazu geführt, die Verbindung von Kapital und Arbeit in einer Hand zu lösen und den feindseligen Gegensatz zwischen dem Besitzer der Arbeitskraft und dem Besitzer der Produktionsmittel hervorzurufen. In diesem Sinne wird das Wort Kapitalis- mus vorzüglich gebraucht. Man will damit ein System bezeichnen, in welchem das naturgemäße Verhältnis von Arbeit und Kapital gestört ist, in welchem die Interessen beider Wirtschaftsfaktoren feindlich aufeinanderstoßen und durch die soziale Zerklüftung der Bestand des herrschenden Sy- stems selbst in Frage gestellt ist. Mit dem Be- griff des Kapitalismus verbindet sich somit stets der Rebengedanke, daß mit diesem System, wo es sich rein darstellt, eine Reihe von schweren wirt- schaftlichen und sozialen Ubelständen verknüpft ist. Und es wird wohl auch kaum zu bestreiten ver- sucht, daß sich dem Kapitalismus zahlreiche Un- vollkommenheiten und Übelstände nachsagen lassen, die auf die verschiedensten Lebensgebiete hinüber- wirken, zum Teil aber auch schon auf demjenigen Gebiete sich fühlbar machen, auf welchem die ur- eigenste Wirksamkeit des Kapitals liegt, auf dem Gebieteder Produktion (Böhm-Bawerka. a. O. 25). 2. Merkmale der kapitalistischen Ge- sellschaftsordnung. In Ergänzung dieser allgemeinen Begriffsbestimmung des Kapitalismus lassen sich noch einige charakteristische Züge oder Begleiterscheinungen desselben anführen: a) Das Unmsichgreifen des Großkapitals und die wilde Spekulationswut, die den regel- los stürmischen Wellengang der modernen Wirt- schaftsverhältnisse hervorruft. Hierüber äußert sich ein konservativer Sozialpolitiker wie Adolf Wagner: „Das Großkapital wird ökonomisch, sozial, politisch immer mächtiger und bewährt seine Anziehungs= und Verschmelzungskraft. Die bisherigen Klein-, Mittel= und selbst Großbetriebe und Güter werden in ihrer Widerstandsfähig- keit gegen die aufsaugende Tendenz des privaten Großkapitals untergraben. Ein Enteignungs- und Enterbungsprozeß greift Platz. Latifundien, Pächterwesen, Proletariertum sind über kurz oder lang die immer allgemeinere Folge. Neue Ab- hängigkeitsverhältnisse großer Volksschichten vom Privakkapital entstehen. Wilde Spekulatio- nen ergreifen immer mehr wirtschaft- Kapital usw. 20 liche Gebiete. Die notwendigen Rückschläge davon, Krisen und flaue Perioden, verbreiten un- endliches Elend über Schuldige und Unschuldige. Zum Spielobjekt wird alles, Mobil und Im- mobil, zu Spielern alle, jeder sucht die „Kon- junkturen“ auszubeuten und zu seinem Vorteil zu wenden, sie selbst künstlich zu schaffen. Der geriebenste und gewissenloseste siegt, und den letzten — beißen die Hunde. . . . Alle die Dinge, die den Triumph des menschlichen Geistes im 19. Jahrh. bilden, werden alsbald eigensüchtig von der Spekulation ausgenutzt, dienen selbst wieder nur dazu, die, Produktion regelloser“, das Erwerbsleben ruheloser zu machen, den einen un- ermeßliche Reichtümer, oft nicht zu ihrem Segen, nicht einmal immer zu ihrem Genuß zuzuführen, die viel zahlreicheren andern nur noch abhängiger, unselbständiger, in Erwerb und Lebensstellung unsicherer, zugleich aber unzufriedener, neidischer, trotziger zu machen“ (Finanzwissenschaft und Staatssozialismus, in der Zeitschr. für die ges. Staatswissenschaften, Tübingen 1887, 122; Lot- mar, Der Arbeitsvertrag, 2 Bde, Leipzig 1908 ff; vgl. Pesch, Die soziale Befähigung der Kirche [ 1889] 363). b) Durch die für immer größere Volksteile eintretende Verschlechterung der ökonomischen Lage und die zunehmende Verderbnis der Moral, der Individual= wie der Sozialmoral, wird auch das soziale Zusammenleben sehr ungünstig beeinflußt. Trotzdem das System des Kapitalismus geeignet ist, die Produktivkräfte unglaublich zu steigern, bewirkt es doch eine wirtschaftlich wie sozial nach- teilige Verteilung des Produktionsertrages. Die schwelgerische Genußsucht, die riesenhafte An- häufung in den Händen einzelner Geldfürsten, die rücksichtslose Ausbeutung der wirtschaftlich Schwächeren, sei es der weniger Kapital Besitzen- den oder der besitzlosen Lohnarbeiter, korresponds#ert auf der andern Seite der Gesellschaft mit menschen- unwürdiger Existenz (Proletariertum), Brutalität und Haß gegen die Besitzenden. Daher ist ein weiteres Merkmal des Kapitalismus c) die fortwährende Kampfesstim- mung, die zwischen den Unternehmern (Kapita- listen) und den Arbeitern herrscht. Beide stehen sich wie zwei feindliche Heerlager gegenüber und sind auch tatsächlich organisiert und diszipliniert wie kampfbereite Armeen: die Unternehmer in den Kartellen, die Arbeiter in den Gewerkschaften; die ersteren bedienen sich als Kampfesmittels der Aus- sperrung unbequemer Arbeiter, letztere des Strikes, der gemeinsamen Arbeitsniederlegung in den Eta- blissements widerspenstiger Unternehmer. Bei solchen Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit ent- scheidet gar oft nicht das Recht, sondern die Macht. „Der Riß zwischen dem besitzenden, aristokratischen Teil der bürgerlichen Welt, der „Bourgeoisie“, und dem nicht besitzenden, um Lohn arbeitenden Teil derselben, dem Proletariat, ist nun nicht mehr bloß in der äußeren tatsächlichen Erscheinung von