Alldeutschen übergehen würde, so könnte er eine unwiderstehliche Volks- bewegung hinter sich und seine Politik bringen. Wir hätten einen temperamentvollen Ausbruch dringend nötig, ähnlich dem im Jahre 1911, da der Kanzler die Geduld mit Herrn v. Heydebrand verlor und ihm zurief: er möchte nicht immer das deutsche Schwert im Munde führen. Mangelndes Selbstvertrauen ist nicht allein der Grund für seine Zurück. haltung. Er läßt das Trugbild des Burgfriedens nicht fahren. „Wir dürfen die Einheitsfront nicht zerreißen“, so hatte er Rohrbach erwidert. — Sie ist längst zerrissen. Aberdies müßten wir eine patriotische Opposi- tion erfinden, wenn sie nicht existierte. Die Annexionisten richten nur Schaden an, solange ihr Gegensatz zur ARegierung verschleiert wird. In offener Kampfesstellung gegen die Regierung können sie verhindern, daß eine maßvolle Kriegszielerklärung den Eindruck der Schwäche ver- mittelt. „Aber der Kanzler ist ja selbst nicht von der Wirkung der Erklärung über Belgien überzeugt. Daran ist das Auswärtige Amt schuld. Herr v. Bethmamm ist ohne eigene Kenntnis der englischen Mentalität. Wenn ihm der Tatbestand des englischen Kriegswillens mit der genügenden Oebendigkeit vom Auswärtigen Amt präsentiert worden wäre, so hätte Bethmanns politische Offensive nicht zugunsten des verschärften U. Boot- krieges abgebrochen werden können, im Augenblick, da sie durchstoßen wollte. Die Herren können nicht aus ihrer diplomatischen Einstellung heraus. Sie rechnen damit, daß die Kriegsentwicklung einmal eine Situation heraufführt, aus der sich automatisch Verhandlungen ergeben; und dann wollen sie mit aller erdenklichen Gewissenhaftigkeit und Ge- schicklichkeit an die Arbeit gehen, um das Beste für Deutschland heraus- zuholen. Inzwischen aber warten sie mit verschränkten Armen und werden nicht inne, daß ihre Tatenlosigkeit den Anfang der Verhandlungen binausschiebt und daß für deren guten Ausgang die Rechtzeitigkeit wich- tiger ist als ihre Geschicklichkeit. „Das Auswärtige Amt hat eine subalterne Auffassung von seiner eigenen Bedeutung im Kriege. Die Gründe liegen tief: in einer Ver- kennung der menschlichen Natur. Die Herren wissen nicht, daß von der „Moral“ der Bölker der Ausgang des Krieges abhängt. Es fehlt das Feingefühl für die öffentlichen Strömungen, das unschägßbare dia- gnostische Material der feindlichen Hresse wird nicht genügend gewertet, dagegen die Bedeutung von Agenten und „Vertrauensmännern über- schätzt. Je geheimnisvoller ihre Nachrichten, um so besser.“ Es sei häufig recht schwer, die ungeteilte Aufmerksamkeit des Amtes zu finden. Die Präokkupation in einer Richtung verleite meist zur Taub- 70