Zweites Kapitel Brest-Litowst Ich glaube, daß Friedrich Naumann und die „Nation“ das „Wehen des Geistes“ richtig erkannt haben, das gegen Jahreswende 1917 durch Deutsch- land und die feindlichen Länder ging. Aber in wenigen Wochen würden wieder die großen Kriegshandlungen beginnen. Sollte die neue Bewegung politische Taten zeitigen, so mußte die Regierung sofort die Führung über- nehmen. Dazu bot sich ihr eine einzigartige Gelegenheit. Am 22. Dezember 1917 begannen die Verhandlungen von Brest-Litowssk. Die ganze Welt horchte auf. Am Weihnachten regte sich immer die gewalt- sam zurückgedrängte Sehnsucht nach Frieden und Menschenliebe. Nun sollte der erste Friede geschlossen werden. Das Vertrauen der befreiten und neu be- drohten Fremdvölker Rußlands schlug uns entgegen als der ordnenden und schützenden Macht: „Ihr Deutschen seid für uns die aufgehende Sonne,“ so hieß es damals. Im Rücken der russischen Anterhändler breitete sich ein blu- tiges und schmutziges Chaos aus. Ansere Macht war nie größer gewesen. Mit Bangigkeit sahen selbst die feindlichen Kriegshetzer der kommenden Entscheidung entgegen, die sie ge- sucht hatten. Niemals hatte eine deutsche Regierung über eine solche Platt- form verfügt, um stolz und versöhnend zugleich durch Worte und Taten unser Recht auf Macht vor die ganze Welt hinzustellen. Trotki, der nicht selbst erschienen war, wollte keine geheimen Verhand- lungen. Welche Herausforderungl! Dieser Mann hatte Menschenqual ohne Ende aufgehäuft: Er war mit den Flüchen von Millionen beladen. Wenn er auf der Offentlichkeit der Besprechungen bestand, so muß er darauf gerechnet haben, daß die deutschen Diplomaten die moralische Offensive gegen ihn entweder nicht ergreifen wollten oder zu ungelenk dazu sein würden. Die Verhandlungen begannen mit ausgesuchter Höflichkeit. Die Mahl- zeiten wurden gemeinsam eingenommen. Mein Vetter Fürst Ernst Hohen- lohe kam bei Tisch neben Madame Byzenko zu sitzen, die sich durch einen Ministermordt gqualifiziert hatte.? 1 Sie hatte am 5. Dezember 1905 den General und ehemaligen Kriegsminister Wiktor Wiktorowitsch Sacharow ermordet. 2 Vgl. General Max Hoffmann, Der Krieg der versäumten Gelegenheiten, München 1923, S. 190. 186