neue während des Krieges die Stimmen der gemäßigten Gruppen von der Kriegsleidenschaft verschlungen wurden. Immer dann, wenn der Sieg oder seine eingebildete Nähe England aus dem Gleichgewicht brachte, die Niederlage den Stolz des Landes verletzte, oder die Rachsucht nach Befriedigung verlangte — in allen solchen Situationen sah England rot. Diese nationale Verblendung, nicht Realpolitik, hat Lloyd George zur Macht getragen und an der Macht gehalten. In den Pausen der Wut und der Schlachten aber, wenn eine Kraftprobe gerade bestanden war oder der blutige Sommerfeldzug zu Ende ging und wiederum die er— hoffte Entscheidung nicht gebracht hatte, oder wenn am Ende eines Winters eine neue Schlachtenreihe anheben sollte und Zweifel sich hervorwagten: Ist überhaupt eine militärische Entscheidung möglich; haben unsere Heer— führer die genügende strategische Einsicht? — in solchen „psychologischen Augenblicken“ hätte die deutsche Regierung es in der Hand gehabt, die öffentliche Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des Verstän- digungsfriedens und der Knock-out-Politik herbeizuführen. Ich glaube allerdings heute, daß diese Auseinandersetzung wohl anders ausgegangen wäre, als wir uns damals vorgestellt. Wir hatten immer nur mit den Alternativen gerechnet: Sturz der Knock-out-Megierung oder Erschwerung des englischen Krieges dadurch, daß Lloyd George dessen Fortsetzung gegen eine starke Opposition erzwingt. Rückblickend glaube ich, daß ein dritter Ausgang wahrscheinlicher gewesen wäre, und möchte mir den Verlauf der Friedenskrisis etwa folgendermaßen vorstellen: nach der deutschen Erklärung über Belgien hätten die Anhänger des Ver- ständigungsfriedens den Beginn der Verhandlungen öffentlich verlangt. Die Gegenmaßnahme der Lloyd Georgeschen Regierung wäre der Appell an das britische Ehrgefühl gewesen, Frankreich nicht in seiner nationalen Hoffnung zu enttäuschen. Aber der Ruf nach Frieden hätte damit nicht zum Schweigen gebracht werden können. Die NReplik war in Bereit- schaft: „Es ist besser für Frankreich, auf dem Verhandlungswege seine Ansprüche in Elsaß-Lothringen, soweit sie gerecht sind, zu befriedigen, als neue Hunderttausende in den Tod zu schicken. Zum mindesten sollte dieser Versuch gemacht werden.“ Diese Parole wäre durchgedrungen, zumal sie auch in Frankreich Resonanz gefunden hätte, das sich im Jahre 1917 einem Scheiterhaufen gleich“ selbst zu verzehren drohte. In dieser Situation hätte Lloyd George geschwenkt. Er war zu klug, um gegen die Gewerkschaften die Fortseczung des Krieges um jeden Dreis zu forcieren. Daß ich die Beweglichkeit und Erfindungskraft dieses Mannes unter- schätzt habe, ist mir erst nach dem Kriege klar geworden, als Lloyd Georges blutige Gewaltpolitik in Irland sich festgerannt hatte und er plößlich 261