die Katastrophe. Heute hieß es: Die Katastrophe ist möglich, aber wir hoffen, sie kommt nicht. In der Auskunft des Generals Ludendorff klang ein optimistischer Unterton mit. Diese Stimmungsänderung hatte eine reale Grundlage. Der Feind hätte in diesen Tagen, besonders bei St. Quentin durchbrechen können, aber er war nicht durchgebrochen. Unsere Front spürte: die feindliche Infanterie tut nicht ihr Letztes, sondern schont sich, oder wird geschont. Heute wissen wir, daß die Führung der Alliierten nicht den Willen hatte, die Entscheidung ohne Rücksicht auf die Kosten zu er- zwingen. Aber aus den Erfahrungen der letzten Kämpfe zog der General Luden— dorff keineswegs den Schluß: die Verhandlungen müssen abgebrochen werden; mit keinem Wort wurde auch nur die Möglichkeit gestreift, das Mäumungsverlangen abzulehnen. Dabei sah er so scharf wie die Marine die Gefahren, die unserem Industriegebiet drohen würden, wenn die Basis für die feindlichen Luftangriffe an unsere Grenze verlegt wäre. Er erklärte es zwar für wünschenswert, daß nur Belgier folgen sollten; als ich aber fragte: „Sollen Verhandlungen mit Entente scheitern, wenn auch fran- zösische oder englische Truppen nach Belgien gehen?" antwortete Luden- dorff mit einem bestimmten Nein. Die Wahrheit war eben, daß der General Ludendorff glaubte, die Landesgrenzen halten zu können, wenn die Armee in Ordnung zurückgeführt würde; anders, wenn sie bis an die Grenze zurück- 1 Daß General Ludendorff in diesen Tagen auf dem hier geschilderten Standpunkt beharrte, erhellt aus dem folgenden Brief Rathenaus (Rathenau, Briefe, II. Bd., S. 111) an Hauptmann W. Breucker, Berlin, 15.Januar 1919: „Zuvor bemerke ich: Ich schätze Ludendorffs strategische Größe und Willensstärke sehr hoch ein und glaube, daß wenn er im Juli 1917 auf meine Worte gehört hätte, als ich ihm die politische Lage und die Frage des U. Bootkrieges klarlegte, alles gerettet worden wäre. Es ist schlimm, daß er schlecht beraten war und sich durch Menschenkenntnis nicht dieser Beratung entzog. Was Ihre Ausführungen betrifft, so bemerke ich zu- nächst, daß ich Ihre Auffassung nicht teile, Ludendorff sei entschlossen gewesen, weiter- zukämpfen, wenn die Bedingungen zu schwer würden. Ich kann das Gegenteil be- weisen. Bei seiner ersten Anwesenheit in Berlin nach dem Waffenstillstandsangebot besuchte ihn auf Beranlassung eines kleinen Kreises von Herren, zu denen ich gehörte, einer seiner nahen Freunde, um ihn über die Situation zu befragen. Auf unsere Ver- anlassung wurde ausdrücklich die Frage vorgelegt: Wissen Sie, daß das Waffenstill. standsangebot den Verlust Elsaß-Lothringens, möglicherweise Oberschlesiens, jeden- falls eine schwere Kriegsentschädigung bedeutet? Die erste und dritte Frage wurde be- jaht, die zweite mit dem Hinweis beantwortet, dies sei Sache der Regierung, und wiederholt der Antwort hinzugefügt, es ist nichts zu ändern, die Front braucht Rubhe. Erst nach etwa zehn Tagen war L. der Meinung, daß man hätte weiter- kämpfen können. In jener Unterhaltung erklärte L. außerdem, daß er leidend ge- wesen, jedoch wieder völlig hergestellt sei. “ 301