Ich habe den Staatssekretär Scheidemann am nächsten Morgen zu mir gebeten und ihm mitgeteilt, daß ich den Kaiser über die Auffassung des Inlandes und Auslandes orientiert hätte. Ich ging so weit, ihm zu sagen, daß ich mit dem Chef des Zivilkabinetts, Herrn v. Delbrück, ge- sprochen hätte; aber ich bedeutete ihm, daß meine Bemühungen sofort zum Stillstand kommen müßten, wenn er und seine Partei mich unter Druck setzten. Ich bat ihn desbalb, den Brief zurückzunehmen. Scheidemann bestritt, nur im Namen seiner Partei zu sprechen. Per- sönlichkeiten aller Richtungen stünden heute auf dem gleichen Standpunkt. Er berief sich auf ältere Staatsmänner und behauptete zu wissen, daß ein Bundesfürst die Abdankung des Kaisers gefordert habe. Mir wurde deutlich, daß die Zurücknahme des Briefes, in die Scheide- mann schließlich willigte, nur eine Formalität war und im besten Falle eine Atempause gewährte; früher oder später mußte die Forderung nach der Abdankung des Kaisers von der Sozialdemokratie offiziell aufgestellt werden. An gleichen Morgen hielt mir mein Sendbote über seine nördliche Reise Vortrag: Es war gelungen, eine Aussprache mit zwei amerikanischen Diplomaten herbeizuführen, und dann noch in Kopenhagen mit unserem Gesandten zu sprechen. Das Gutachten des Grafen Brockdorff-Nantzan wog für mich am schwersten: Ob die internationale Situation durch eine Abdankung des Kaisers erleichtert würde, sei ihm fraglich. Für ihn sei der Zustand der Heimat maßgebend: das deutsche Volk werde nicht in der Lage sein, sich gegen entehrende Waffenstillstandsbedingungen zu wehren, wenn der Kaiser seine Abdankung hinauszögere. Der Bericht über die Unterredung mit den zwei amerikanischen Diplo- maten lautete in seinen wesentlichen Stellen: „1. Wilson hält noch an seinem Rechtsfrieden fest und ist fghting an up- hill battle“ (ich zitiere wörtlich) gegen die Ententechauvinisten, die gegenwärtig in England und Frankreich am NRuder sind. Der Chauvinismus hat auch in der amerikanischen öffentlichen Meinung das #bergewicht. 2. Sowohl & wie V hielten es für möglich, daß Wilson durch die Unterstellung der Kommandogewalké, die Absetzung Ludendorffs, persönlich von der Echtheit und Dauer der Demokratisierung überzeugt ist, aber sie erklärten, daß aller Wahr- scheinlichkeit nach seine Aberzeugung nicht mehr ausreiche, um seinen Standpunkt bezüglich der Waffenstillstandsbedingungen durchzusetzen; bei den Friedens- bedingungen sei es anders. 3. Foch ist heute selbst schon in Amerika ein ebenso großer Mann wie Wilson. Mit den Jusqu'’au-Boutisten würde Wilson schon fertig werden, aber zwischen der Kriegs- und der Friedenspartei steht die Mittelpartei, die eines deutlicheren de- mokratischen Beweises bedarf, um zu Wilson zu schwenken. 532