Die Situation entwickelt sich reißend schnell zugunsten der Revo— lutionäre. Bei den Militärbehörden liegen bestätigende Nachrichten vor über das Meutern der Truppen. Am 11 Uhr war der Oberleutnant v. Etzdorf im Kriegsministerium erschienen und hatte gemeldet: das Jägerbataillon Nr. 4 und noch andere Formationen in der Kaserne am Kupfergraben, das Jägerbataillon im Schloß und die Panzerkraftwagen im Schloß weigern sich, gegen das Volk vorzugehen. Das Beispiel der Kerntruppe wird die Garnison mitreißen — das war sofort die Auffassung, die sich alsbald be- stätigte: Schlag auf Schlag treffen Meldungen ein über die Gehorsams- verweigerung anderer Truppenteile (Nordreserve, Jüterboger Artillerie). Verschiedene Formationen verhandeln mit den Mehrheitssozialdemokraten und wollen sich dem Volk zur Verfügung stellen. Oberleutnant Colin Roß! kommt zwischen 11 und ½12 Uhr in die Reichskanzlei, berichtet von gewaltigen Arbeiterzügen, die von neuem im Anmarsch seien, und macht eine lebhafte Schilderung, wie sich Soldaten und Demonstranten miteinander verbrüdern. Die Bewegung sei unwider- stehlich. David lasse mir sagen, die Sozialdemokratische Partei versuche zu beruhigen. Gewaltanwendung sei sinnlos und würde die Lage nur ver- schlimmern. Auch ich bin überzeugt, daß ein Versuch, der mit versagenden Truppen unternommen würde, nur zum Sieg der radikalen Richtung führen müßte. Ich lasse den Kriegsminister bitten, sofort zu mir zu kommen, um die Frage zu klären: welche Instruktionen sind den Truppen für den Waffen- gebrauch in diesem Augenblick zu erteilen? Aus dem Reichstag wird telephoniert, daß Entlassungsgesuche der sozialdemokratischen Minister unterwegs seien. Die halbe Stunde verrann, ohne daß die in Aussicht gestellte For- mulierung aus Spa eintraf. Jeden Augenblick mußte die Absetzung des 1 Damals der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes zugeteilt. 2 Nach der Erinnerung des Herrn Colin Roß hätte ich die Worte gesprochen: „Geranlassen Sie das."“ Er will sie als einen Auftrag aufgefaßt haben, in dem von ihm angeregten Sinne ein Schießverbot herbeizuführen. Als keiner der Anwesenden — von denen mich auch sonst keiner so mißverstanden hatte — Miene machte, in dieser ARichtung irgendwelche Schritte zu tun, sei er, Oberleutnant Colin Roß, an ein Telephon der Reichskanzlei gegangen und habe von dort das Kriegsministerium angerufen: Es dürfe nicht geschossen werden. Tatsächlich ist am späten Vormittag eine derartige telephonische Meldung an das Kriegsministerium gelangt, aber wegen ihrer unklaren Herkunft nicht weiter gegeben worden. BVon mir ist auf Grund der Meldung von Colin Roß nichts weiter veranlaßt worden, als die Herbeirufung des Kriegsministers. 633