Zehntes Kapitel. Petersburg. 1. Es ist in der Geschichte der europäischen Staaten wohl kaum noch einmal vorgekommen, daß ein Souverän einer Großmacht einem Nachbarn dieselben Dienste erwiesen hat, wie der Kaiser Nicolaus der östreichischen Monarchie. In der gefährdeten Lage, in welcher diese sich 1849 befand, kam er ihr mit 150000 Mann zu Hülfe, unterwarf Ungarn, stellte dort die königliche Gewalt wieder her und zog seine Truppen zurück, ohne einen Vortheil oder eine Entschädigung zu ver- langen, ohne die orientalischen und polnischen Streitfragen beider Staaten zu erwähnen. Dieser uninteressirte Freund- schaftsdienst auf dem Gebiet der innern Politik Oestreich-Ungarns wurde von dem Kaiser Nicolaus in der auswärtigen Politik in den Tagen von Olmütz auf Kosten Preußens unvermindert fortgesetzt. Wenn er auch nicht durch Freundschaft, sondern durch die Erwägungen keiserlich russischer Politik beeinflußt war, so war es immerhin mehr, als ein Souverän für einen andern zu thun pflegt, und nur in einem so eigenmächtigen und übertrieben ritterlichen Autokraten erklärlich. Nicolaus sah damals auf den Kaiser Franz Joseph als auf seinen Nach- folger und Erben in der Führung der conservativen Trias. Er betrachtete die letztre als solidarisch der Revolution gegen- 1) Zu diesem Kapitel vgl. Bismarck's Briefwechsel mit dem Minister Freiherrn v. Schleinitz. Stuttgart und Berlin, J. G. Cotta'sche Buchh. Nachf. 1905. :) D. h. der durch die Heilige Allianz vom 26. Sept. 1815 verbun- denen Mächte Rußland, Oestreich und Preußen.