— 195 — Unter diesen Umständen ist es bedeutungslos, daß der Kreislandrath als Vorsitzender der Kreiskommission in streitigen Armensachen durch Verfügung vom 22. Oktober 1873 bei Gelegen- heit eines Sühneversuchs die Hülfsbedürftigkeit der Familie M. und den Eintritt der Armenpflege als erwiesen angesehen hat. Von größerem Werthe würde diese Anerkennung sein, wenn der Land- zahh nach §. 63 des Ausführungsgesetzes vom 8. März 1871 im Beschwerdewege den Kläger zur Leistung der Armenpflege angehalten hätte, und zwar auf Grund sorgfältiger Ermittelung aller in Betracht kommenden Umstände. Selbst dann aber würde es dem Verklagten unbenommen ge- wesen sein, den Gegenbeweis zu führen. Um so weniger kann hier von einer endgültigen Fest- stellung der streitigen Hülfsbedürftigkeit, geschweige denn von endgültiger Entscheidung der Frage, ob Armenpflege eingetreten ist, die Rede sein. Kempetenz der Spruchbehörden in Armensachen zur Entscheidung über einen nach §. 56 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 gestellten Antrag auf Belassung des Hülfsbedürftigen am Aufenthaltsorte. — Voraus- setzung für die Zulaßung eines solchen Antrages ist vorgängige Feststellung der Uebernahmepflicht des für- sorgepflichtigen Armenverbandes, sei es durch vollstreckbare Entscheidung, sei es durch unbedingtes noch wirk- sames Anerkenntniß. Das Erkenntniß des Bundesamtes vom 21. November 1874 in Sachen Apolda wider Nieder- krossen enthält folgende hierauf bezügliche Ausführungen: Der klagende Armenverband Apolda hat inhaltlich der am 11. Juli d. Js. abgegebenen Erklärung den Antrag des Johann Leonhard B. aus Niederkrossen, daß der erste Richter (Bezirks- ausschuß des 11. weimarischen Verwaltungsbezirks) gemäß §. 56 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 sein Verbleiben in Apolda anordnen und den von Niederkrossen als Heimathort zu zahlenden Unterstützungsbetrag auf 15 Sgr. wöchentlich festsetzen möge, zu dem seinigen gemacht. Der erste Richter hat jedoch sich für unzuständig erklärt über den Antrag zu entscheiden und den Kläger nur angewiesen, bis auf Weiteres dem B. die früher gewährte, seit dem 17. März 1874 sistirte Armen- unterstützung von 15 Sgr. wöchentlich wieder zu verabreichen. Die vom Kläger fristzeitig durch das Rechtsmittel der Berufung angefochtene Inkompetent- Erklärung des ersten Richters ist nicht gerechtfertigt. Das Reichsgesetz vom 6. Juni 1870 verordnet in §. 56, daß der Spruchbehörde des Aufent- balkortes die Entscheidung darüber zusteht, ob die Ausweisung einer wegen dauernder Hülfs- bedürftigkeit von dem fürsorgepflichtigen Armenverbande zu übernehmenden Person unterbleiben soll, wenn auf deren Belassung am Aufenthaltsorte angetragen wird. Vorauzgesetzt ist hierbei, daß der Antrag von einem der betheiligten Armenverbände ausgeht (vergleice alinea 2). Die Zuständigkeit des Bezirksausschusses im zweiten weimarischen Verwaltungsbezirk war daher nicht begründet, so lange nur B. selbst Beschwerde darüber führte, daß die altenburgische Gemeinde Niederkrossen ihn behufs Uebernahme der eigenen Fürsorge nöthigen wolle, dahin zurückzukehren; sie trat aber sofort ein, als wie erwähnt, der Armenverband Apolda darauf antrug, daß B. gegen Festsetzung eines von Niederkrossen zu zahlenden Unterstützungsbetrages in Apolda belassen werde. Wenn gleichwohl der erste Richter zur Entscheidung auch über diesen Antrag sich für inkompetent erklärt hat, weil es sich zur Zeit nicht um Ausweisung des r2c. B. handele, so hat er übersehen, daß der vom Kläger unter ausdrücklicher Bezugnahme auf §. 56 des Reichsgesetzes gestellte An- trag allerdings darauf gerichtet ist, der Ausneifang des ect. B., beziehungsweise der von Nieder- krossen am 21. Februar 1874 beantragten Ueberführung desselben in seine Heimath vorzubengen. Nicht blos, wenn der fürsorgepflichtige Armenverband auf Verbleiben des Hülfsbedürftigen am Aufenthaltsorte gegen den die Uebernahme und Ausweisung betreibenden Verband der vorläufigen Unterstützung anträgt, sondern auch, wenn der letztere Armenverband seinerseits dem Ueberführungs- antrage des fürsorgepflichtigen Armenverbandes gegenüber das Verbleiben angeordnet wissen will, ist die Zuständigkeit der Spruchbehörde des Aufenthaltsortes nach §. 56 cit. begründet. Demgemäß wäre die erhobene Klage zur Verhandlung zuzulassen und nach dem Antrage des Klägers die Sache zur Einleitung des ordnungsmäßigen Verfahrens und anderweiter erst- instanzlicher Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen, wenn nicht schon jetzt feststände, daß der Klageantrag vorzeitig gestellt ist.