— 6 — wiesen. Ob er reisefähig war und die Absicht hatte, in Berlin Heilung zu suchen, auch mit den zur Reise nach Berlin erforderlichen Geldmitteln ausreichend versehen war, ist dabei voll- kommen gleichgültig. Der Krankheitszustand, in welchem er entlassen wurde, machte ihn, wie bemerkt, hülfsbedürftig, noch ehe ihm die wenigen Geldmittel in Kreiensen angeblich durch Diebstahl oder Betrug abhanden gekommen waren, und es ist eine grundlose Unter- stellung des Verklagten, daß A. erst im Herzogthum Braunschweig durch Verlust seines Geldes und Verschlimmerung seines Augenübels in die Lage gekommen sei, in welcher er öffentlicher Unterstützung bedurfte. Allerdings hat A. nicht unmittelbar nach seiner Entlassung in Moringen öffent- liche Unterstützung in Anspruch genommen; er ist mit Hülfe von Reiseunterstützung, welche er in Seesen, Lutter, Salzgitter und Wolfenbüttel empfing, bis Braunschweig gekommen, ehe er Krankenpflege auf öffentliche Kosten nachsuchte. Daraus wird vom ersten Richter in Uebereinstimmung mit dem Verklagten abgeleitet, daß die Hülfsbedürftigkeit erst fünf Tage nach der Entlassung aus dem Werkhause in Moringen hervorgetreten sei, und zur Zeit der Entlassung noch nicht bestanden habe. Wenn das erste Erkenntniß hierbei davon- ausgeht, daß in der Regel der Beginn der Hülfsbedürftigkeit mit dem Beginne der Unter- stützung zusammenfalle, und hier das Bestehen der Hülfsbedürftigkeit anscheinend nur deshalb in Abrede stellt, weil keine der von jener Regel zugelassenen Ausnahmen im vor- liegenden Falle zutrifft, so wird die Bedeutung des Beginns der Unterstützung für die Beurtheilung der Hülfsbedürftigkeit verkannt. Wohl tritt das Bedürfniß öffentlicher Unter- stützung für die Armenpflege regelmäßig in Erscheinung, sobald dasselbe einem Armenver= bande erkennbar geworden und durch Gewährung von Unterstützung thatsächlich anerkannt ist. Allein, so wie das Hervortreten der Hülfsbedürftigkeit ausnahmsweise dem Beginne der Unterstützung vorausgehen kann, wenn z. B. Armenpflege ohne Grund versagt und von der vorgesetzten Behörde nachträglich angeordnet wird, so fällt auch das Bestehen der Hülfsbedürftigkeit nicht nothwendig der Zeit nach mit dem erkennbaren Hervortreten des Unterstützungsbedürfnisses zusammen. Immer muß die Lage des einzelnen Falles den Ausschlag geben, wenn es sich darum handelt, ob ein Unterstützungsbedürfniß vor dem Beginne der Unterstützung eingetreten ist, oder sogar vor dem Hervortreten schon bestanden hat. Die erwähnte Regel ist keine Rechtsregel, welche die thatsächliche Beurtheilung ein- engt, sondern gilt nur so lange, als sich nicht aus der Lage des einzelnen Falles durch- schlagende Gründe für die Annahme des Gegentheils ergeben, da sie eben nur einen Anhalt für die thatsächliche Beurtheilung gewähren soll und gewähren kann. Die Vorschrift in §. 30 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870, daß für denjeni- gen, welcher in hülfsbedürftigem Zustande aus einer Straf-, Kranken-, Bewahr= oder Heilanstalt entlassen worden ist, der Landarmenverband, aus dessen Bezirk die Einlieferung erfolgte, Sorge zu tragen hat, und nicht der Landarmenverband, in dessen Bezirk die Hülfsbedürftigkeit hervortrat, legt das entscheidende Gewicht auf das Bestehen der Hülfs- bedürftigkeit zur Zeit der Entlassung, welches dadurch keineswegs ausgeschlossen wird, daß der hülfsbedürftig Entlassene nicht unmittelbar nach der Entlassung die Armenpflege in Anspruch nimmt, und im vorliegenden Falle nach der Ueberzeugung des Bundesamtes hinreichend dargethan ist, Verklagter war daher, unter Abänderung des ersten Erkenntnisses, zum Ersatze der liquidirten Kur= und Verpflegungskosten, deren Betrag nicht angefochten ist, zu verur- theilen, wovon die Folge ist, daß ihm auch die Kosten und baaren Auslagen des Verfah rens zur Last fallen.