— 194 —                                    8. Heimath-Wesen Eintritt der Hülfsbedürftigkeit eines Landarmen im Sinne des 8. 30 Nr. 2 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870. In der nachstehenden Streitsache handelte es sich lediglich um die Frage, in welchem Landarmenverbands- Bezirke die Hülfsbedürftigkeit eines Landarmen im Sinne des 8. 30 Nr. 2 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 eingetreten war, ob in dem Bezirke des Landarmenverbandes des Herzogthums Braunschweig oder erst in demjenigen der Provinz Sachsen. Der zu Veltheim a. Fallstein in der Provinz Sachsen geborene, aber unstreitig landarme St. kam am 10. Februar 1874 Abends von Kalme im Herzogthum Braunschweig, wo er sich zuletzt im Dienst des Ackermanns Qu. aufgehalten hatte, an einem kranken Fuße leidend, in einem unbestritten hülfsbedürftigen Zustande nach Veltheim, wo ihm die öffentliche Armenpflege alsbald zu theil geworden ist. Er hatte den Weg von Kalme nach Veltheim zu Fuß zurückgelegt, und zu diesem nur 1 bis 2 Stunden weitem Wege nach seiner spätern eidlichen Aussage 9 Stunden gebraucht. Der Ortsarmenverband Veltheim ist mit seiner gegen den Landarmenverband des Herzogthums Braunschweig auf Kostenerstattung und Zurücknahme des St. erhobenen Klage durch Erkenntniß der Herzoglichen Deputation für das Heimathwesen in Braunschweig vom 11. Oktober 1876 abgewiesen worden. Die Klage war auf die Behauptung gestützt, daß die Hülfsbedürf- tigkeit des ect. St. bereits eingetreten gewesen sei, ehe er Kalme verließ. Der erste Richter hat dagegen an- genommen, daß sich St. bei Eintritt der Hülfsbedürftigkeit bereits in der Provinz Sachsen befunden, daß er in Kalme eine öffentliche Unterstützung nicht nachgesucht, auch, um nach Veltheim zu gelangen, ein Trane- portmittel aus Rücksicht auf sein Beinleiden nicht beansprucht habe, vielmehr freiwillig nach Veltheim ge- angen sei. gang Der abgewiesene Kläger hat appellirt. Das Bundesamt für das Heimathwesen hat seine Berufung auch für begründet erachtet und durch Erkenntniß vom 10. März 1877 den Verklagten nach dem Klagean— trage verurtheilt, indem angenommen werden müsse, daß die Hülfsbedürftigkeit des St. im Sinne des Ge- setzes bereits eingetreten war, als er sich noch in Kalme, also im Bezirke des Verklagten, befand. Die Gründe lauten: Die Atteste des Dr. O. zu Hessen vom 2. Mai 1874 und vom 30. Oktober 1875, gegen welche kein Einwand erhoben worden, lassen zunächst darüber keinem Zweifel Naum, daß das bei der ersten Untersuchung des Kranken konstatirte schwere, nach dem letztgedachten Atteste entschieden unheilbare Leiden — sogenannter Elephantenfuß — ein damals bereits weit vorgeschrittenes, also jedenfalls seit längerer Zeit bestehendes war. Dies würde aber allein nicht ausreichen, die Verpflichtung des Verklagten zu begründen, wenn das Leiden, in Folge dessen St. bei seinem Eintreffen iu Veltheim am 10. Februar 1874 unzweifelhaft und unbestritten hülfsbedürftig ge- wesen ist, ihn nicht schon während seines vorhergegangenen Aufenthalts in Kalme in einen Zu- stand versetzt gehabt hätte, in welchem seine Hülfsbedürftigkeit im Sinne des §. 30 Nr. 2 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 für bereits eingetreten erachtet werden mußte. Daß sein Bein- leiden sich während der Zeit, wo er bei Qu. in Kalme zunächst als Knecht im Dienst stand und dann als Arbeiter beschäftigt war, fortschreitend verschlimmert hatte, ergiebt sich aus der Aussage des St. selbst und seines Arbeitsherrn Qu. Ob schließlich der Letztere oder ob St. das zwischen beiden bestehende Verhältniß gekündigt hat, erscheint ohne Erheblichkeit, da jedenfalls soviel fest- steht, daß das immer zunehmende Beinleiden es gewesen ist, welches die Auflösung jenes Ver- hältnisses herbeigeführt hat. St. hat eidlich ausgesagt, daß sein Leiden zu Anfang Februar 1874 sich so bedeutend verschlimmert gehabt habe, daß er nicht die leichteste Arbeit verrichten konnte, und er deshalb seinem Dienstherrn erklärt habe, daß er seine Arbeit verlassen müsse. Der Dienst- herr bestätigt das, indem er bekundet, St. habe ihm erklärt, daß es mit seinem Fuße doch nicht weiter gehen wolle, und er sich deshalb nach Veltheim zu seinem dort wohnenden Schwager be-