452 V. Reichstag. Art. 28. daß der Reichstag nach Stimmenmehrheit beschließt; es ist also der allein verfassungsmäßige Zustand, daß die Minderheit sich der Mehrheit fügt. Die Minderheit hat nur einen Anspruch darauf, daß sie gehört und daß der Gegenstand der Vorlage sachgemäß erörtert wird. Dagegen find alle Mittel, die darauf berechnet find, den Gang der Verhandlungen zu ver- zögern nur um zu verhindern, daß eine Vorlage vom Parlament ver- abschiedet wird, als verfassungswidrige Obstruktion zu bezeichnen, selbst wenn diese Mittel den Bestimmungen der Geschäftsordnung formell ent- sprechen. Denn es wird hierdurch ein dem Zweck und der Bedeutung dieser Bestimmungen der Geschäftsordnung fremdes Ziel verfolgt, das Ziel, Mehrheitsbeschlüsse zu verhindern, und damit wird dem Parlament der Boden entzogen, auf dem es steht. Denn der dann entstehende Zustand ist staatsrechtlich so wenig wie politisch haltbar, staatsrechtlich nicht, weil die Bestimmung des Art. 28 nicht mehr zur Wahrheit werden kann, und politisch nicht, weil das Parlament aktionsunfähig wird und weil es damit seine Stellung, sein Ansehen und seine Bedeutung im öffentlichen Leben verliert; vgl. die Reichstagsverhandlungen v. 16., 17. u. 18. Okt. 1902 St. B. 5687 ff. Über die Wahl des Präsidiums gibt die G.O. im §s§ 9 ff. Aus- führungsvorschriften. Artikel 28. Der Reichstag beschließt nach absoluter Stimmenmehrheit. Zur Gültig- keit der Beschlußfassung ist die Anwesenheit der Mehrheit der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder erforderlich. I. Die Beschlußfähigkeitsziffer. II. Die Kontrolle der Beschlußfähigkeitsziffer. III. Die Mindestziffer bezieht sich nicht auf Beratungen. IV. Die Berechnung der Stimmenmehrheit. I. Die Beschlußfähigkeitsziffer. Zur Beschlußfähigkeit ist die Mehrheit der gesetzlichen Anzahl der Abgeordneten erforderlich. Die gesetzliche Anzahl beträgt 397, die zulässig geringste Mehrheit also 199. Wie für den preußischen Landtag nach Art. 80 der preuß. Verf. Urk. kommt es also nicht auf die Zahl der tatsächlich vor- handenen Abgeordneten an, deren Istbestand mit Rücksicht auf die durch Tod, Verzicht oder andere Gründe erledigten Mandate geringer zu sein pflegt als der Sollbestand; vgl. die Ausführungen des Abg. Harnier in der Reichstagssitzung v. 30. März 1867 St. B. S. 467, auf dessen Antrag die geltende Fassung des Art. 28 beruht. Weder das Plenum des Reichstags noch dessen Präfident haben ein Mittel, auf die Mitglieder einen Druck auszuüben, damit die zur Beschluß- fähigkeit erforderliche Anzahl erscheint. Die Bestimmung des §8 65 der G.O. über die Beurlaubung der Abgeordneten, die das unentschuldigte Aus- bleiben erschweren soll, hat erfahrungsgemäß für diesen Zweck nicht aus- gereicht; die neuen Vorschriften über die Zahlung einer Vergütung an die Reichstagsmitglieder sind geeignet, einigen der Ursachen des Absentismus