eM — 86 Einleitung. Wer etwa glauben wollte, daß der Aberglaube nur lediglich noch kulturgeschichtlich als Teil der Volkspsyche früherer Entwicklungsperioden für den Forscher von Interesse sei, der dürfte sich sehr irren, gerade die bizarrsten Gedanken und Vorurteile pflanzen sich jahrhundertelang fort. Die Worte von Stollbergs: „Des Aberglaubens alte Rechte er— strecken sich auf jedes Haupt, noch ist im menschlichen Geschlechte ihr Einfluß größer als man glaubt“ haben noch heute volle Geltung. Der Aberglaube, dieser unausrottbare Rest aus der Jugend der Menschheit, ist der wirkliche ewige Jude, der, in der Welt herumwandernd, nicht sterben kann; „das Vorurteil ist ewig jung, wie seine Mutter, die Phan- tasie, es wird ja alle Tage neu geboren.“ Goethe, einer der feinfühligsten Beurteiler menschlichen Empfindens, sagt vom Aberglauben (Sprüche in Prosa Nr. 35): „Er gehört zum Wesen des Menschen und flüchtet sich, wenn man ihn ganz und gar zu verdrängen denkt, in die wunderlichsten Ecken und Winkel, von wo er auf einmal, wenn er einigermaßen sicher zu sein glaubt, wieder hervortritt.“ Der Hang nach dem Wunderbaren und Übersinnlichen ist in der menschlichen Natur tief begründet, er liegt dem Menschen gleichsam im Blute. Und nicht ist der Aberglaube nur im niederen Volke heimisch, er durchzieht alle Kreise der menschlichen Gesellschaft, stand doch selbst ein Mann wie Bismarck in seinem Bann. Ja, Hand aufs Herz, wer von uns möchte sich gänzlich davon freisprechen? Ist auch so manches von dem, was der Vorfahren heiligster Ernst war, den Enkeln zur geselligen Unterhaltung geworden, so wird doch das, was jenseits unseres Wissens und Könnens liegt, stets ein Tummelplatz des Aberglaubens bleiben trotz Forschung und Kulturfortschritt. Dahin- gegen läßt der Einfluß der Neuzeit und ihrer Kultur einen Rückgang des alten Volkstums und seiner Überlieferungen erkennen. Wie mancher schöne und sinnige Brauch aus der Zeit, wo „der Großvater die Groß- mutter nahm“, ist schon jetzt spurlos verschwunden. Und doch welch hohen Wert haben Volkssitten und Volksbräuche zur Charakterisierung