Verlust der Vormachtstellung. 99 zerfahrenen kleinstaatlichen altdeutschen Westen nach den großen Staatengebilden des kolonialen Ostens verschoben hatte, so trat der protestantische Norden auch mehr und mehr an die Spitze des wirtschaftlichen und geistigen Lebens. Hierin behauptete Kursachsen auch jetzt noch eine führende Stellung, im eigentümlichen Gegensatze zu dem Stillstande seines innern politischen Lebens. Hemmend, wirkten freilich die scharfe Trennung der Stände, das Übergewicht des stolzen Adels in Staat und Landwirtschaft, die damit zu— sammenhängende immer steigende Belastung der Bauern mit Zinsen, Fronen, Gesindediensten und ihre immer mehr verstärkte Gebundenheit an die Scholle, in den Städten die Herrschaft eines ebensooft selbstsüchtigen und habgierigen wie geschäftstüchtigen und tatkräftigen Patriziats und die Fortdauer eines immer peinlicher gehandhabten Zunft- zwanges, in der Kirche die starre lutherische Orthodoxie, in der Wissenschaft, die an den Universitäten von eng unter sich versippten Professorengeschlechtern getragen wurde, die neue lutherische Scholastik. Trotz aller dieser Hindernisse erholte sich Kursachsen von den entsetzlichen Verheerungen und Menschenverlusten des Dreißigjährigen Krieges rascher als andere Landschaften, be- sonders durch die in Menge (etwa 150000) zuströmenden pro- testantischen „Exulanten" aus Böhmen und Osterreich, die in vielen Städten (z. B. Dresden, Zittau u. a. m.) ihre „böhmischen Gemeinden“ und „böhmischen Gassen“ gründeten oder ganz neue Ortschaften (Johanngeorgenstadt im Erzgebirge 1654, Neu- salza in der Ober-Lausitz 1670) anlegten. Auch sonst machte die Besiedelung im höhern Erzgebirge und Vogtlande, nament- lich im Anschluß an Hammerwerke, Fortschritte. Da im Gebirge die Silberausbeute rasch abnahm, so ging die zahlreiche Be- völkerung dort zu neuen Industriezweigen über (Serpentin- dreherei in Döblitz, Posamenten in Annaberg, musikalische Instrumente in Klingenthal und Marknenkirchen). Neben der alten fortblühenden Tuchmacherei entwickelte sich glänzend die Leinweberei, in der südlichen Ober-Lausitz um Zittau auch auf 7*