G 64 20 seine Kolonien ausgegeben hat, ist sicher mehr als die Hälfte, wenn nicht drei Viertel, als Arbeitslohn in die Hände der Industrien gegangen und hat direkt die Arbeitsnachfrage vermehrt und auf die Löhne eingewirkt. Aber unsere Industrie wird auch von der Entwicklung der Kolonien weiterhin eine starke Unabhängigkeit gewinnen in bezug auf ihre Rohprodukte und ihren Absatz, und wie wichtig das ist, hofse ich dieser Tage noch an anderer Stelle aus- führen zu können. Auch die Landarbeiterbevölkerung, die zum er- heblichen Teil die Olfrüchte und anderen Produkte, die den Kolonien eigen sind, konsumiert, wird in ihrer Lebenshaltung erleichtert. Der Zersplitte- rung unseres Grundbesitzes in Deutschland wird in gewisser Weise entgegengearbeitet. Denn schon jetzt ist eine Anzahl von zweiten Söhnen besser gestellter Landwirte teils unterwegs, teils bereit, nach Süd- westafrika und in andere unserer Kolonien auszu- wandern und dort neu zu beginnen, um eine weiterc Zersplitterung des heimischen Familienbesitzes zu vermeiden. Die Bewegung ist sehr aussichtsvoll, wenn man bedenkt, daß Länderstrecken in Westafrika von 1½mal der Größe des Deutschen Reiches für Weiße besiedlungsfähig sind, in Ostafrika nach Rechnung des Herrn Leue ein Gebiet mindestens in der Größe von Preußen, was dort um so wichtiger ist, als der Boden fruchtbar ist, d. h. eine große Anzahl von Siedlern vertragen kann. Der Nutzen für Kaufleute und für die Schiffahrt ist zu offen- liegend, um darauf zurückzukommen. Der Nutzen für die Entwicklung unserer Wissen- schaft, der angewandten und theoretischen, ist ganz außerordentlich. Deshalb handelt es sich, ab- gesehen von der materiellen Seite der Kolonien in dem gegenwärtigen Zustand um große nationale Güter, und es ist notwendig, daß im gegenwärtigen Moment verständige, in der Nation angesehene Leute, wie es im Hamlet heißt: „Zwischen sie und ihr Seel' im Kampf treten“, ausklärend und er- leuchtend wirken, die Tatsachen richtig, mit ihren Licht- und Schattenseiten darstellen, und nicht nur selbst die Überzeugung von dem sittlichen und wirt- schaftlichen Wert unserer kolonialen Arbeit ge- winnen, sondern sie auch der neuen Generation mitteilen, auf daß Deutschland der Ehre und des Nutzens, welchen ein blühender Kolonialbesitz mit sich bringen wird, nicht verlustig gehe und hinter seinen Rivalen nicht zurückbleibe aus Kleinmut, aus Mißverständnis und aus tibelwollen. Meine Herren! In unserer Nation schlummern — wir haben das bei mancher ernsten Gelegenheit gesehen —vielcundstarke Kräfte, die bereit sind, sich in den Dienst einer großen nationalen Aufgabe zu stellen. Helfen Sie uns, diese Kräfte zu lösen. An Sie, die Hüter der Kultur- güter unserer Nation, an die Führer und Lehrer unserer heranwachsenden Geschlechter geht im natio- nalen Interesse unsere Bitte, helfen Sie uns, den Impuls zu wecken, ohne den nach einem Bismarck- schen Worte keine Kolonialpolitik Erfolg haben kann. II. Vortrag, gehalten auf Veranlassung des Deutschen handels- tages am 11. Januar 1907. Meine Herren! Ich erachte es als einen beson- deren Vorzug, zu Ihnen, den Vertretern des deut- schen Handels und der deutschen Industrie sprechen zu dürfen, weil ich bei Ihnen sicher bin, das Ver- ständnis für die Fragen, deren Behandlung und Bearbeitung mir jetzt obliegt, zu finden, das in die weiten Kreise unserer Nation hineinzutragen erst noch meine und, wie ich hoffe, auch Ihre Ausgabe sein wird. Eine im Beginn ihrer Entwicklung stehende Kolonialverwaltung muß mit so vielen ihrer Nalur nach unbestimmten Größen und Fak- toren rechnen, daß es in der Tat kaufmännisch ge- schulter Männer bedarf, um die Aussichten, die ich Ihnen zu entwickeln die Ehre haben werde, zu be- urteilen, ohne übertriebenen Sanguinismus nach der einen Seite, ohne Kleinmut nach der anderen Seite. Ich habe deshalb auch keinen Zweifel, daß ich von Ihnen, den Männern, die einen gleichen Entwicklungsgang durchgemacht haben, gleiche Er- fahrungen ihr eigen nennen, nicht mißverstanden werde. Meine Herren! Wir leben in einer Zeit, in der die Wogen politischer Erregung hoch gehen, und in- mitten der Erörterungen steht die Frage des deul- schen Kolonialwesens. Ich habe es deshalb für nötig gehalten, festzustellen, welches der Stand dieses unseres kolonialen Wesens zur Zeit sei, indem ich mich dabei stütze auf die amtlichen Daten, die mir zur Verfügung stehen, und auf die Meinungen der- jenigen Männer, denen ich nach ernsthafter Prü- fung ein wirkliches Urteil zutrauen zu dürsen glaube. Dabei kann es nicht meine Absicht sein, in dem herrschenden politischen Kampfe irgend eine Stellung zu nehmen, noch mich an der Polemik zu beteiligen, die sich seit langer Zeit erhoben hat. Wenn ich Ihre Aufmerksamkeit für mich erbitte, so Heschieht das, weil es sich bei unseren Kolonien um wichtige Güter handelt, Güter, welche liegen auf kulturellem, auf ethischem und auf materiellem Ge- biet, ein Dreiklang, den man auch kurz zusammen- fassen kann dahin, daß es sich um eine nationalc Frage handelt. Ich will mich heute darauf be- schränken, die materielle Seite zu beleuchten, so- weit das in der mir zur Verfügung stehenden Zeit ermöglicht werden kann. Meine Herren! Die deutsche koloniale Bewegung. isi jetzt einige 20 Jahre alt, und es ist richtig, zu-