W 116 20 Daß Deutschland erst 400 Jahre nach der Entdeckung Amerikas in die Reihe der koloni- sierenden Völker eingetreten und sein überseeischer Besitz deshalb geringer ist als derjenige der Engländer oder Franzosen, daran trägt derselbe Geist die Schuld, der jetzt die Mittel für eine kraftvolle Kolonial= und Machtpolitik verweigert. Die am lautesten die angebliche Wertlosigkeit unserer Kolonien verkünden, sind deshalb am wenigsten berechtigt, sich darauf zu berufen. Jede Kolonisation bedingt ein Zusammen- wirken privater Tatkraft und kollektiver Macht- entfaltung, und von Anfang an ist der Wettkampf um die nenu entdeckten Gebiete des bewohnbaren Erdballes eine Sache der großen Nationalstaaten gewesen, die sich gerade in diesem Kampfe zu straffen Einheiten zusammenschlossen. Die Deutschen dagegen verharrten, wie ihre Schicksalsgenossen, die Italiener, in den vom Mittelalter über- kommenen kommunalen und landschaftlichen Lebens- formen, in politischer Zersplitterung und Parteiung. So und nicht anders ist es gekommen, daß die beiden im Zeitalter der Entdeckungen höchst- entwickelten und reichsten Bölker Enuropas, die einzigen, die es im Mittelalter verstanden hatten, durch Kolonisation ihre Herrschaft auszubreiten — von jenem Wettkampf einfach ausgeschlossen blieben. Es ist aber großen VBölkern nicht vergönnt, als unbeteiligte Zuschauer zur Seite zu stehen, wenn sich weltgeschichtliche Umwälzungen voll- ziehen. Hier gilt der Satz, daß, wer nicht Hammer sein will, zum Amboß wird. In der- selben Zeit, als England den Grund zu seinem Weltreich legte, als andere Staaten ihrem Volks- tum weite Gebiete errangen, ward Deutschland zum meistmißhandelten Lande Europas. Soll ich daran erinnern, wie seine blühenden Gefilde immer wieder der Verwüstung anheimfielen, wie seine Flußmündungen in fremde Hände gerieten, das reiche Erbe Lübecks auf Amsterdam und bald auf London überging? In den verarmten Städten verkamen Handwerk und Kunst, die ost- und süddeutschen Bauern verfielen der Herrschaft lokaler Gewalten, der Leibeigenschaft. Armut, Philistertum und Unfreiheit auf der einen, Klassen- dünkel auf der andern Seite wurden zum Merk- mal deutschen Lebens. Es war die Zeit ge- kommen, in der Wohlstand und Freiheit nur noch unter dem Schutze starker Staaten zu ge- deihen vermochten. Wie der Ausschluß Deutschlands von der Teilnahme an der neuen Welt, so ist sein endlicher Eintritt in die koloniale Tätigkeit eine Folge seiner aus Kampf und Sieg hervorgegangenen Einigung und der glänzenden Entwicklung ge- wesen, welche die geeinigte Nation mit ihrem Außenhandel, ihrer Industrie und Schiffahrt rasch an die Spitze der europäischen Festlands- staaten führte. Denn das wachsende Bewußtsein der eignen Kraft und des eignen Wertes ließ es schmerzlich empfinden, daß Millionen und aber Millionen unserer besten Bürger, die als Kolonisten hinauszogen, in fremde Nationen aufgingen und deren Reiche bauen halfen, daß überall der deutsche Kaufmann und Unternehmer draußen als Fremdling an zweiter Stelle stand, daß er in unzivilisierten Ländern eines kräftigen Schutzes und unsere Kriegsflotte eigener Stützpunkte ent- behren mußte. Als deshalb zu Anfang der 80er Jahre hansische Kaufleute Schutz für ihre Niederlassungen an der afrikanischen Westküste und in Polynesien begehrten, und bald der An- trag einiger unternehmender junger Leute um Anerkennung ihrer Gebietserwerbungen in Ost- afrika folgte, war es ein notwendiger Ausdruck nationalen Ehrgefühls, daß Fürst Bismarck diesem Verlangen stattgab. Was die nationale Ehre gebot, ist dann mehr und mehr als eine politische und wirtschaftliche Notwendigkeit erkannt worden, als eine wahre Lebensfrage für Deutschland. Denn die Wandlungen der Verkehrstechnik haben im 19. Jahrhundert alle Maßstäbe erweitert, welche an die territoriale Grundlage nationaler Staatenbildung und Wohlstandsentwicklung zu legen sind. Das Zeitalter, dem die Nationalstaaten Europas und ihre Kämpfe untereinander ihren Stempel aufdrückten, geht seinem Ende entgegen. Die rasche Besiedlung von bisher nur an den Rändern besetzten, nun aber durch die Eisenbahnen im Innern aufgeschlossenen großen Kontinenten, die Besiedelung Nordamerikas, der La Plata- Gebiete, Sibiriens, Kaplands usw., hat den Schwerpunkt der Bevölkerungsvermehrung euro- päischer Rassen bereits außerhalb Europas ver- legt. Wir sehen wahre Weltreiche entstehen, welche mit Hilfe der Eisenbahnen, Dampfschiffe und Telegraphen ganze Erdteile und weit zer- streute Dependenzen der Herrschaft einheitlicher, politischer und wirtschaftlicher Systeme unterwerfen, Staaten, die entweder schon jetzt mehrere hundert Millionen Einwohner zählen, oder doch in abseh- barer Zeit zählen werden. Sie alle sehen wir in starker Ausbreitung be- griffen und schwere Kriege nicht scheuen, um neue Territorien ihrer Herrschaft anzugliedern. Die außerordentliche Macht der neuen Weltreiche, an ihrer Spitze die Vereinigten Staaten, liegt nicht lediglich in der großen Volkszahl, sondern in der erstaunlichen Fülle und Mannigfaltigkeit ihrer natürlichen Reichtümer, sie sind weniger als die anderen auf deren Ergänzung durch Einfuhr von außen her angewiesen. Das Maß der Unab- hängigkeit aber bestimmt die Stellung eines Landes in der Welt. So steht die staatliche und wirt-