GW 188 20 Da ihm noch der Vorzug zugute kommt, „ein altes und reiches Land“ zu sein, so muß es, dem weisen Rate Stuart Mills folgend, durch die Anwendung seiner Kapitalien koloniale Arbeit treiben. Sein von der republikanischen Regierung vorgezeichneter und befolgter Kolonisationsplan wird von jetzt an das Ziel haben, nicht die Stecklinge der französischen Rasse selbst in neuen Ländern, wie einst auf den Antillen und in Canada, einzupflanzen, sondern die wirtschaftliche Entfaltung dieser Länder mit der Absicht zu fördern, sich „Handelsmärkte“ zu sichern. Um diesen Zweck zu erfüllen, muß Frankreich streben, die sittliche und wirtschaftliche Entwicklung der eingeborenen Bevölkerungen, die es in die Bewegung des allgemeinen Reichtums und in den Vormarsch der Menschheit mit sich fortreißt, zu beleben und zu beschleunigen. Das Programm wird also wesentlich wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art sein. Auf dieser Kolonisationsbasis ist in den letzten Jahren eine Eingeborenenpolitik betrieben worden, die 1903 von Herrn Dubief gerühmt und 1905 von Herrn Clementel, als er damals Minister der Kolonien war, eifrig befolgt wurde. Diese Politik hat von dem neuen, heute an- genommenen Kolonisationsverfahren die Ein- gebung erhalten. Sie geht dahin, eine Kolonie durch die Bereicherung der Eingeborenen wertvoll zu machen: Einerseits die Produktions-= kraft der Eingeborenen zu vermehren, damit das Mutterland aus seinen Kolonien die Lebensmittel entnehmen kann, die sein eigener Boden ihm nicht liefert, und damit es sich die Roherzeugnisse sichert, die es jetzt gezwungen ist, sich vom Aus- lande zu verschaffen. Anderseits die Ver- brauchskraft der Eingeborenen zu vermehren, damit die verarbeiteten Erzeugnisse des koloni- sirenden Landes dort abgesetzt werden können. Dieser doppelte Zweck wird durch die körper- liche, geistige und sittliche Entwicklung des Ein- geborenen erreicht werden. Es genügt nicht, seine Muskelkraft durch gesundheitliche Maß- nahmen und durch die Hebung der Rasse, sowie seine berufliche Geschicklichkeit durch die Verwen- dung der neuzeitlichen vervollkommneten Mittel zu erhöhen. Man muß ihm ebenso eine sittliche Stütze und eine materielle Hilfe gewähren, in- dem ihm die persönliche Freiheit und das Eigen- tum des Bodens, der sein Hauptmittel zum Reichtum ist, verbürgt wird, indem ein seinen Bräuchen angepaßter Bodenkredit eingerichtet wird, indem die vorhandenen Verkehrswege ver- bessert oder neue geschaffen werden. Das ge- wünschte Resultat wird durch die Entfaltung der Ausfuhrbewegung der Kolonie und durch den wachsenden Reichtum ihrer Bewohner in die Er- scheinung treten. Es wird dann leicht sein, diese Zunahme des Reichtums beim Eingeborenen durch Umgestaltung seines Geschmackes und seiner Be- dürfnisse auszunutzen. So machen wir aus ihm einen „Teilhaber“. Es ist die „Geschäfts" politik, die von jetzt ab an die Stelle der Beherrschungspolitik tritt: Be- teiligung der eingeborenen Völker auf Grund ihrer eigenen Entwicklung an dem materiellen und sittlichen Wohlstande, der uns durch unsere wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritte gebracht wird. Wie muß diese Politik gefestigt werden und auf welche Betätigungsmittel muß sie sich stützen? Unsere erste Pflicht ist, die materielle Besserung der eingeborenen Bevölkerung zu suchen, indem der öffentliche Beistand organißiert wird. In Asien und in Afrika kann uns nichts das Vertrauen dieser Völker besser erwerben und unser Zivilisationswerk mehr fördern, als die ärztliche Hilfe. Wir müssen die Eingeborenen als Mitglieder der großen Menschheitsfamilie be- handeln und ihnen alle Eroberungen zugute kommen lassen, die die Wissenschaft der Mensch- heit schon gebracht hat. Außer der ärztlichen Fürsorge, bestimmt ihre Leiden zu mildern, müssen sie von uns belehrende Ratschläge über die Mittel erwarten, durch die sie die Krank- heiten vermeiden und den Seuchen vorbeugen können. Als Hauptsteuerzahler, von denen wir ohne Unterlaß Erhöhung der Abgaben fordern, müssen sie deren Verwendung besonders in ihrem Privatleben wiederfinden; sie müssen sehen, daß die ihnen auferlegten Opfer auch zur Erfüllung der gemeinsamen gesellschaftlichen Pflichten dienen. So werden die Eingeborenen durch die mächtigen Bande der Erkenntlichkeit an uns gefesselt; man hat mit Recht sagen können, daß neben der Eisenbahnschiene der Arzt das beste Mittel sei, um die friedliche Eroberung der Bölker auf dauerhafte Grundlagen zu stellen. Dieses zunächst menschliche, dann koloniale Werk ist nur die Vorbereitung des Bodens, in den wir das gute Korn einer wohlverstandenen Kolonisation legen wollen. Die materielle Hebung der Eingeborenen muß durch ihre geistige und gesellschaftliche Befreiung vervollständigt werden. Wir selbst müssen zu dieser Befreiung durch die Verbreitung des Gebrauches unserer Sprache und durch eine große Entfaltung des Unterrichts helfen. Ist es nicht in der Tat die erste Not- wendigkeit für ein zivilisierendes Volk, daß es mit seinen Schützlingen in unmittelbare Berbin- dung zu treten und daß es aus seiner eigenen Sprache ein Band zu knüpfen versteht, das, wie die Geschichte der Welt lehrt, als das sicherste