W 888 20 Die Stellung des Häuptlings ist eine patri- archalische. Jedes Mitglied des Stammes schuldet ihm persönlich Treue und Gehorsam und ist ihm ohne Entgelt zu Dienstleistungen verpflichtet, wenn es des Häuptlings oder des Stammes Interesse erfordert. Anderseits haben aber die Stammes- angehörigen das Recht, gewisse Stammesländereien gemeinschaftlich zu benutzen. Der Häuptling leitet die Geschicke des Stammes, er regiert aber nicht absolut, gewisse Einrichtungen zwingen ihn vielmehr, bei wichtigeren Handlungen auch den Rat angesehener Untertanen einzuholen. Der Häuptling ist ferner erster Richter seines Stammes und ohne seine Sanktion darf keine Anderung in den überlieferten Gebräuchen vorge- nommen werden. lber dem Häuptling stand häufig noch ein Oberhäuptling (Parameunt Chiek), der eine Gruppe von Stämmen unter seiner Herrschaft vereinigte. Die Vorzüge des Stammessystems bestanden darin, daß es von den Eingeborenen vollkommen verstanden wurde, und sic zu dem Gefühl gegen- seitiger Verantwortlichkeit und zum Gehorsam gegen- über der Obrigkeit erzog. Es brachte ferner ein sicheres System der Kontrolle mit sich, da jeder Kraalinsasse dem Kraalsvater, jeder Kraalsvater seinem Häuptling und jeder Häuptling seinem Cber- häuptling verantwortlich war.1) Bei der Autorität, die dem Häuptling in der Stammesverfassung eingeräumt war, ist es selbst- verständlich, daß er auch ein Hauptfaktor der Rechts- bildung sein mußte. Vor allem kamen dabei natür- lich die großen Häuptlinge in Betracht, die Recht schaffen konnten. Wie weit sie dabei von ihren Ratgebern beeinflußt wurden, kam auf ihre perfön- lich erworbene oder verfassungsmäßige Unabhängig- keit an, die bei den einzelnen Völkern Verschiedenheiten zeigte. Bei den Kaffern berieten die Häuptlinge den Gesetzesplan meist mit ihren Ratgebern und ließen sich wohl auch von ihnen bestimmen. Bei den Zulu dagegen war die Herrschaft des Häupt- lings eine unumschränktere, bei den Basutos wiederum waren die Rechte des Volkes slärker entwickelt.?) Konnten die gewöhnlichen Häuptlinge auch nicht Recht schaffen, „jus facere“, so vermochten sie doch „jus dicere“ in den von ihnen in den Gerichts- höfen gefällten Entscheidungen, und trugen dadurch zur Rechtsbildung bei, vorausgesetzt natürlich, daß 1) Das reine Stammessystem hat zwar unter der Einwirkung von Verwaltungsmaßregeln und der Gesetz- gebung der Kolonialregierungen sowie unter dem Ein- flusse der Zivilisation Anderungen erfahren, aber die Grundlagen sind vielfach erhalten geblieben und das Sy#tem ist der Verwaltung dienstbar gemacht. Vgl. Sec. 218 Report. 2) Vgl. The JNatives of South Africa S. 21, 37, 39. Der Rat des Häuptlings seutzt sich zusammen aus den kleineren Unterhäuptlingen und anderen Männern von besenderem Ansehen oder Verdienst. Vgl. Maclean, S. 21. sie ein derartiges Ansehen genossen, daß ihre Ent- scheidungen in der Uberlieferung erhalten blieben und auch späteren Generationen noch von autori- tativer Bedeutung in Rechtsfragen erschienen. Was die Gültigkeit des Eingeborenen-Rech:s nach der Einführung europäischen Regiments in Südafrika anbetrifft, so darf es nach den Ermitt- lungen der Native Affairs Commission (Scc. 216 Report) als allgemeine Erfahrung hingestellt werden, daß von den Rechten, Gebräuchen und (Gewohn- heiten der Eingeborenen nur das ausfgehoben oder verboten ist, was den allgemeinen Prinzipien der Humanität und Zivilisation widersprach. Dagegen ist das Recht häufig modifiziert worden. Ein ge- waltsamer und radikaler Eingriff in die überlieferten Rechtsverhältnisse der Eingeborenen könnte auch nicht anders als verhängnisvoll sein, da viele Be- standteile ihrer Rechte und Gewohnheiten eng mit ihren sozialen Verhältnissen verknüpft sind, und eine Anderung der Rechte eine gefährliche Umwälzung bedeuten und Unzufriedenheit erregen müßte. Die Native Affairs Commission empfiehlt deshalb auch (Sec. 233) auf Grund dieser Beobachtung, die Verbesserung des für die Eingeborenen geltenden Rechts und seine Assimilation an das Kolonialrecht zwar im Auge zu behalten, aber nicht vorschnell herbeizuführen. Erkennt man aber die Gültigleit von Einge- borenen- Necht in engeren oder weiteren Grenzen i, so entsteht weiter die Notwendigkeit, ein Mittel zu finden, nichteingeborenen Richtern das Einge- borenen-Recht zugänglich zu machen. Die Kom- mission spricht sich in Sec. 232 dagegen aus, das Eingeborenen-Recht in einem Code als Gesetz fest- zulegen, und hält es für richtiger, das Recht nur zu einem Handbuch zusammenzufassen als Nach- schlagebuch, um die Schwierigkeiten der Feststellung des Eingeborenen-Rechts dem einzelnen zu er- leichtern und dadurch cine größere Gleichförmigkeit in der Anwendung des Rechts herbeizuführen. Gegen die Festlegung des Eingeborenen-Rechts in einem Gesetzbuche läßt sich einwenden, daß die Rechtsgebräuche der Eingeborenen infolge der mannig- fachen Einwirkungen von außen in steter Entwick- lung begriffen sind, und eine Kodifizierung des Rechts eine gewisse Erstarrung in den alten Formen bringen müßte, während ein einsaches Textbuch natürlich ohne große Schwierigkeiten immer der Rechtsentwicklung entsprechend richtiggestellt werden könnte, und auch bei der Rechtsprechung nicht den- selben Zwang ausübt wie ein Gesetzbuch. Von dem Eingeborenen-Recht zu unterscheiden ist das Recht der Kolonie, welches wiederum in Kolonialrecht und Sonderrecht der Eingeborenen eingeteilt werden kann. Unter Kolonialrecht möchte ich sowohl das Recht, welches von den Engländern bei der Ubernahme der Kolonie unter den euro- pdischen Bewohnern derselben vorgefunden ist, als auch das von der Gesetzgebung der Kolonie unter