786 20 bis in die letzten Jahrzehnte hinein, und wo unser Einfluß nicht hinreicht, noch heute Kindstötung geübt wird. Meist sind ihr die Mädchen als die zur Ver- teidigung des Stammes nicht geeigneten Wesen anheim- gefallen. Nehmen wir an, daß lange Generationen hindurch, und sei es auch nur an den Ursitzen der Ka- naken gewesen, diese Sitte des Mädchenmordes ge- herrscht hat, so müßte sie eine Neigung des Volkes zu überschüssiger Knabenproduktion bewirken. Zur näheren Erklärung sei die sehr plausible Theorie eines eng- lischen Naturforschers') darüber angeführt: „Nehmen wir als Beispiel drei Familien an. Die eine Mutter hätte sechs Töchter und keinc Söhne geboren, die zweite nur sechs Söhne und die dritte drei Söhne und drei Töchter. Die erste Mutter tötet vielleicht vier Töchter und läßt zwei am Leben, die zweite behält ihre sechs Söhne; die dritte tötet zwei Töchter und behält eine, sowie auch ihre drei Söhne. Wir haben demnach von diesen drei Familien neun Söhne und drei Töchter, die den Stamm fortpflangen sollten. Während aber die Personen männlichen Geschlechtes Familien ange- hören, in denen die Tendenz, Söhne hervorzubringen, groß ist, zeigt sich bei denen weiblichen Geschlechts die entgegengesetzte Neigung. So wird sich mit jeder Generation der Hang verstärken, bis sich Familien heraubilden, die gewöhnlich mehr Söhne als Töchter haben.“ Diese Verschiebung im Verhältnuis der Ge- schlechter durch Mädchenmord muß kraft der Vererbung zunächst auch dann noch anhalten, wenn die Sitte er- loschen ist. Erst allmählich kann sich, hünstige Ent- wicklungsbedingungen des Volkes vorausgesetzt, der Ausgleich und die Rückkehr zur normalen Tendenz vollziehen. Überblicken wir nunmehr die Pathologie des Volkes, so bedarf es, um abschließend urteilen zu önnen, noch der Aufarbeitung des von uns ge- ammelten Materiales; aber vieles läßt sich auch jeczt hon klar, erkennen. Neben den bereits erwähnten Fußgesch würen fallen dem Beobachter auf den ersten Blick zwei weitere äußere Krankheiten durch ihre un- geheure Verbreitung unter den Kanaken auf, das sind die Tinen und die Augenkrankheiten. JFeder dritte bis vierte Erwachsene leidet an Tinea, wobei auch hier wieder verfolgt werden kann, daß sie bei genereller Ausbreitung ausnahmelos zu schwerer Anämie führt. Fast ebenso groß ist die Verbreitung von Augenleiden (s. Tab. III). Es handelt sich bei ihnen nicht um ein einheitliches Krankheitsbild, sondern wir haben sie nur bis zum Abschluß unserer darüber begonnenen Unter- suchungen unter dem Namen der eitrigen Konjunktivitis zusammengefaßt. Entsprechend ihren häufigen Kom- plikationen ist der gezentsab von Totalerblindungen unter den Leuten h Tabelle IIII. Krankheitsverbreitung unter den 171 Kanakenfrauen der Gruppen I bis IV. Tinen imbricatt. 135 = 29 v. H Fußverstümmelungen. 116 = 25 Eitrige Konjunktivitis. 8 = 17 Doppelseitige Ketalerblindung 5 — 1,1- Einseitige Erblindung 111 = 2,3 Außer diesen drei, bei der Betrachtung größerer Bestandsmassen sich ohne weiteres darbietenden Krankheiten haben wir unser Augenmerk auch auf die sonstige Pathologie gerichtet. Die Tuber- kulose spielt bisher keine große Rolle unter ihnen; stellenweise ist sie überhaupt noch nicht aufgetreten. Bei *) Colonel Marshall; zitiert aus Darwin, die Abstammung des Menschen, Kap. 8. 27 Tuberkulinimpfungen von Schulkindern reagierte nur eins Fositip und dessen Mutter war bezeichnenderweise leprös. Der Aussatz kommt sowohl als Flecken= wie Knotenlepra vor, der Eingeborenenname dafür ist „Mbamballe". Die Leprösen bzw. Lepraverdächtigen wurden notiert. Selbst wenn sich bei allen der Ver- dacht bestätigt, würden wir nur mit einer geringen Verbreitung zu rechnen haben. Freilich sind die Nach- forschungen nach Fleckenlepra erschwert durch die so häufige Tinea i mbricata, deren Hautveränderungen die leprösen Erscheinungen der Haut verdecken können. Günstig ist das Volk noch hinsichtlich der Geschlechts- krankheiten gestellt. Daß es aber ernstlich von ihnen bedroht ist, geht daraus hervor, daß im Bereich der beiden Europäerzentren Rabaul und Herbertshöhe viele Eingeborenenfrauen mit venerischen Leiden (meist Gonorrhöe oder venerisches Granulom, nur ausnahms- weise Syphilis) hospitalisiert werden. Ankylosto--- miasis ist stark verbreitet. Die Stuhluntersuchungen ergaben schon im Kindcsalter über 50 v. H. Behaftete. Dic diesbezüglichen Feststellungen wurden an zwei - tvon Schulkindern der Mission gewommen. Da- bei hat Külz in der Überzeugung, daß gradige bei hot #ülg in 2 auch die psychische Vistunofähe keit beeinträchtigt, zweimal folgende Probe gemacht: Er hat nur mit Hilfe mikroskopischer Untersuchung der Stuhlproben unter den ihm vorgeführten Knaben ohne sonstige Orientierung diejenigen bezeichnen können, welche die mangelhaftesten Fortschritte aufzuweisen hatten. Frambösie herrscht in allgemeinster Ver- breitung, führt aber nur sehr selten zu jenen fürchter- lichen Zerstörungen, wie sie von den Karolinen ge- schildert wurden. r Malariaindex schwankt zwi- schen sehr weiten Gienzen und ist offensichtlich direkt abhängig von der Höhenlage und der Durchlässigkeit des Bodens. Wir haben auf der Gazellehalbinsel im wesentlichen zwei vexschiedene Bodenarten: Bimsstein und in gewissen Teilen der Küstenniederung gehobene, verwitterte Koralle; jener überaus durchlässig, diese weniger. Erwähnenswert ist das stellenweise ge- häufte Vorkommen des Kropfes in allen seinen Arten, besonders an den Abhängen und den Tälern in der Nähe des Varzinberges. Gegen seine Operation verhielten sich die Leute ablehnend, obwohl er von seinen Trägern als häßlich empfunden zu werden scheint, worauf ein vor dem Bezirksamt Rabaul ver- handelter Fall deutet, in dem ein Medizinmann mit einem schmutzigen Messer eine junge Frau an Rropf zu Tode operiert hatte. Was die medizinische Eigenbetätigung der Kanaken anbetrifft, so bewegt sie sich für innere Krank- heiten ganz in den Bahnen der Zauberei und des Aber- glaubens entsprechend der Vorstellung, daß innere Leiden durch übelwollende Zauberer oder böse Geister ver- ursacht werden. Einen unerwarteten Gipfelpunkt haben sie aber in der Chirurgie erklommen, denn sie kennen und üben Trepanation. ie Lehrmeisterin dieser Kunst ist die Not gewesen. Eine der am meisten gebrauchten Waffen der Leute war die Steinschleuder, und die häufigen schweren Schädelverletzungen durch Schleudersteine im Kampfe im Verein! mit den durch Kenntnissen haben sie zu therapeutischen Vor- gehen gebracht. Die sehr sorgfältige und saubere Technik dieser Behandlung bel Ichödestrüche findet sich in allen Einzelheiten genau geschildert in dem Parkin= sonschen Werke über den Bismarckarchipel'), auf das hier verwiesen sei. Die häufig wiederholte Beobachtung, Parkinson= Dreißig Jahre in Seite 111 ff. der Südsee.