Neuntes Kapitel. Reformatorische Volksstimmungen. Im fünfzehnten Jahrhundert ist das Elsaß nicht eben reich an litterarischen Erscheinungen. Die Männer, die von hier aus zuerst wieder bedentend eingriffen in das geistige Leben Deutschlands, die Kaisersberg, Wimpheling, Brant, sind nicht früher als um die Mitte des Jahrhunderts geboren (Kaisersberg 1445, Wimpheling 1450, Brant 1458), und ihre Thätigkeit führt uns schon an die Schwelle der Reformation. Die Voraussetzungen der Refermation aber sind lange vorhanden, ehe die entscheidende That eintritt: einerseits die Verweltlichung der Kirche, andererseits das Kraftgefühl und die rege Kritik des Volkes. Wenn wir uns die Kirchenlieder, Erbauungsschriften und bibli- schen Poesien eines Heinrich von Laufenberg oder Priester Liutwin zu Gemüthe führen, so fühlen wir uns nicht erhoben oder zur An- dacht gestimmt. Ein merkwürdig weltlicher Athem weht uns dar- aus an. Heinrich von Laufenberg war der fruchtbarste geistliche Dichter und Prosaschriftsteller des fünfzehnten Jahrhunderts in deut- scher Sprache. Er lebte zuerst als Weltpriester zu Freiburg im Breisgau und zog sich dann 1445 in das einst von Rulman Merswin gegründete Johanniterhaus zum grünen Wörth (S. 81) zurück. Aber die alte mystische Vertiefung in das Jenseits wohnt nicht mehr in diesen Räumen. Heinrichs zahlreiche Kirchenlieder klingen